Familie des Großvaters von Max Günsberg, väterlicherseits
Namensherkunft
Ein jüdischer Genealoge siedelte die Herkunft des Namens Günsberg, ebenso wie die der verwandten Namen Günsburg, Günzburg, Ginsberg, Gainsbourg etc. im süddeutschen Günzburg an. Auch in der gängigen Forschungsliteratur (vgl. dazu Johannes Czakai, Nochems neue Namen. Die Juden Galiziens und der Bukowina und die Einführung deutscher Vor- und Familiennamen 1772–1820. Göttingen 2021) ist die These anerkannt, dass die Dynastie der Gintsburg (jiddisch) im 16. Jahrhundert in Süddeutschland ansässig war. Die Verwendung des Namens seit dem 16. Jahrhundert ist überaus erwähnenswert, da im Gegensatz dazu die meisten Juden erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts kurz nach der Teilung Polens und dem Zuschlag Galiziens und der Bukowina zur österreichischen Monarchie aufgrund entsprechender Verordnungen der österreichischen k.u.k. Verwaltung aus den Jahren 1785, 1787 und 1804 Familiennamen im heutigen Wortsinn zugewiesen bekamen und diese nur sehr zögerlich nutzten (anfangs meist nur im Verkehr mit Behörden). Die gesetzliche Annahme fester Familiennamen durch Juden war jedoch nicht auf Polen beschränkt, sondern ein gesamteuropäisches Phänomen. Bis dahin benutzen aschkenasische Juden im Gegensatz zum Großteil der christlichen Bevölkerung in der Regel oftmals Patronyme (nach dem Vater) oder Matronyme (nach der Mutter) oder auch lokale Beinamen, die bei der Namensvergabe durch die k.u.k. Behörden praktisch ausnahmslos gestrichen und ersetzt wurden.
Nur sehr wenige Juden, so auch die Abkömmlinge der Gintsburg, führten erbliche Familiennamen überregional führender Familien, die auch als »jüdische Aristokratie« oder Adel bezeichnet werden. Im 18. Jahrhundert dominierte diese jüdische Oberschicht, die aus etwa zwanzig weitverzweigten Familien bestand, die politischen und religiösen Geschicke der Juden in Polen-Litauen. Ihr Jiches/Yikhes war institutionalisiert und generationsübergreifend, was sich in der quasi Erblichkeit der Beinamen ausdrückte. Ihre familiären Verbindungen reichten bis in den deutschen Sprachraum, sie heirateten bevorzugt untereinander und kontrollierten fast alle wichtigen Rabbinerposten und Gemeinden. Zu ihnen gehörten vor allem die Familien Ashkenazi, Auerbach, Bloch, Broda, Epstein, Ettinger, Fränkel, Günzburg, Halberstadt, Halpern, Heller, Horowitz, Katzenellenbogen, Landau, Margulies, Rapaport, Schorr, Shapiro und Teomim. In ganz Galizien waren etwa 30 dieser "rabbinischen" Familiennamen bekannt. Die Abstammung von bedeutenden Rabbinern und Gemeindeführern einer dieser Familien mit Jiches/Yikhes war im 18. Jahrhundert eine fast unumstößliche Karrierevoraussetzung und orientierte sich vermutlich an der Praxis des polnischen Adels.
Die bedeutendsten Vertreter der Gintsburg lassen sich in "Gershon David Hundert, The YIVO Enzyklpedia of Jews in Eastern Europe." nachlesen.
Max Günsberg behauptete stets, dass sein Vater Setyk/Siegmund Günsberg als "Raw", also eine Autorität in halachischen Fragen jüdischen Rechts, angesehen wurde, diese Bezeichnung findet sich auch auf seinem Grabstein. Diese Stellung mag sich auch aus seinem prominenten rabbinischen Namen ergeben haben.
Migrationsgeschichte
Bereits im Mittelalter sahen sich zahlreiche mittel- und nordeuropäische Juden zur Abwanderung nach Osteuropa veranlasst, wo ihnen durch die polnischen Könige dieser Zeit freundliche Aufnahme zuteilwurde. Die verbliebenen Juden etablierten im 16. Jahrhundert im damals habsburgischen Günzburg im Wechselspiel immer wiederkehrender Vertreibungen aus anderen schwäbischen Städten nach der Ausweisung der Juden aus Ulm 1499 die zu dieser Zeit bedeutendste jüdische Gemeinde in Süddeutschland. Aber wie schon in Ulm entwickelte sich im selben Maß, wie die Bedeutung der jüdischen Gemeinde zunahm, auch die Ablehnung durch die christliche Mehrheitsbevölkerung. 1617 schließlich verfügte der Markgraf Karl von Burgau, ein strenger Katholik und Sohn Ferdinands II., die Ausweisung der Günzburger Judengemeinde binnen Jahresfrist. Zahlreiche Juden und Jüdinnen sahen sich daher im Lauf des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts zu einer Abwanderung aus Schwaben veranlasst, viele von ihnen migrierten erneut nach Polen.
Zusätzlichen Schub erhielt die aschkenasisch-jüdische Migration durch die Reformgesetzgebung Joseph II. im Jahr 1782, die Juden mehr Rechte als zuvor und dadurch bessere Lebensbedingungen in den damals neu dem Habsburgerreich zugeschlagenen Gebieten versprach. Joseph II. erhoffte sich dadurch einerseits eine Verminderung des jüdischen Bevölkerungsanteils in seinen Stammlanden und andererseits eine raschere Entwicklung der als rückständig angesehenen neuen Ost-Provinzen.
Auch unsere Familie Günsberg ist laut DNA-Analysen der Nachkommen nachgewiesenermaßen aschkenasischer Abstammung und demnach der oben beschriebenen Migrationsbewegung aus Westeuropa gefolgt.
Der Herkunftsort der Familie Günsberg ist die Kleinstadt Schurawno/Zurawno in der Nähe von Lwiw (Lemberg) im damals (1772 bis 1918) habsburgisch-österreichischen Kronland Galizien. Heutzutage liegt Galizien im Grenzbereich zwischen Polen und der Ukraine.
Zurawno wurde wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gegründet. Berühmtheit erlangte es erstmals 1676 als Standort einer berühmten Schlacht und des darauffolgenden Friedensschlusses zwischen den Osmanen und dem polnischen König Jan Sobieski, der einige Jahre später, 1683, als legendärer Befreier Wiens in die Geschichte eingehen sollte.
In dieser Kleinstadt entstand im 18. Jahrhundert eine jüdische Gemeinde, im Jahr 1765 wohnten 566 Juden in Zurawno. Diese lebten traditionell hauptsächlich vom Branntweinausschank, dem Geldverleihen und dem Handel, hauptsächlich dem Viehhandel. Die jüdische Gemeinde wuchs stetig und erreichte ihren Höchststand im Jahr 1880, als 2.197 Juden einen Bevölkerungsanteil von 69%, also mehr als zwei Drittel, stellten. In den damaligen Medien schien Zurawno fast ausschließlich im Zusammenhang mit dem Ochsenhandel auf, jüdische Ochsenhändler lieferten galizisches Hornvieh überwiegend nach Olmütz und selbst in die ferne Residenzstadt Wien.
Postkarte aus Zurawno vom Juni 1902
Nach 1880 nahm die jüdische Bevölkerung Zurawnos jedoch kontinuierlich ab. Eine erste Welle jüdischer Abwanderung, großteils nach Wien, begann infolge des „Inslebentreten“ (siehe Artikel unterhalb) des 1867 erlassenen Staatsgrundgesetzes (Dezemberverfassung), das zum allerersten mal nach vielen Jahrhunderten der Diskriminierung auch Juden die völlige Gleichstellung mit anderen Ethnien, demnach auch alle Staatsbürgerrechte und damit verbunden Niederlassungsfreiheit in der gesamten Monarchie einräumte. In den 1870er Jahren kamen daher einige Zehntausend Juden und Jüdinnen und mit diesen auch die ersten Mitglieder unserer Familie, nämlich Rafael und Sime Fanger mit ihren noch minderjährigen Kindern, nach Wien. Die bereits großjährigen Kinder der Fangers sowie die Familie Günsberg verblieben vorerst noch in Galizien. Der Großteil dieser Einwanderer kam nicht, wie etwa die zweite große Migrationsbewegung 40 Jahre später während und nach dem ersten Weltkrieg, großer Not gehorchend nach Wien, sondern versprach sich hier nach der endlich erfolgten rechtlichen Gleichstellung mit anderen Ethnien bessere wirtschaftliche Chancen als im galizischen Hinterland.
Aber auch in die USA wanderten zu diesem Zeitpunkt bereits zahlreiche Juden aus Zurawno aus, wie die bereits 1888 eigens eingerichtete "Zurawner Lodge" am Mt. Zion Cemetery Maspeth, Queens, NYC, zeigt:
Der erste Weltkrieg bedeutete für das Städtchen Zurawno die ultimative Katastrophe. Nachdem zu Beginn des Krieges von Herbst 1914 bis Frühjahr 1915 an der österreichischen Ostfront die russische "Dampfwalze" tief in das österreichisch-ungarische Territorium eingedrungen war, wendete sich das Kriegsglück mit der für Österreich sehr erfolgreichen, wenn auch verlustreichen Schlacht bei Gorlice-Tarnow im Mai 1915. Das Landwehr-Infanterieregiment Nr.17 von Setyk Günsberg war entscheidend an dieser Schlacht beteiligt. In der Folge konnte praktisch das gesamte zuvor von Russland besetzte Gebiet zurückerobert werden und auch Lemberg ebenso wie Zurawno war wieder in der Hand der kaiserlich-königlichen Truppen. Für Zurawno sollte sich dieser militärische Erfolg jedoch als fatal erweisen, lag es doch nunmehr unmittelbar an der Frontlinie der Kriegsparteien und wurde praktisch dem Erdboden gleichgemacht.
Schlacht-Lageplan vom 09.06.1915
Postkarte aus dem zerstörten Zurawno am Dnjestr
Die stetige jüdische Abwanderung fand ihren Höhepunkt 1921, also kurz nach dem ersten Weltkrieg, als nur noch 865 Juden (44,9% der Bevölkerung) in Zurawno lebten. Im Jahr 1931 lebten etwa tausend Juden in Zurawno. Diese Gemeinde wurde dann während des zweiten Weltkrieges (1939-1945) ausgelöscht. Am 03.Juli 1941 besetzen Truppen der deutschen Wehrmacht Zurawno. Am 5.September 1942 wurden einige hundert Juden ins Vernichtungslager Belzec deportiert und darauffolgend für den Rest der jüdischen Gemeinde ein Ghetto eingerichtet. Vom 04.Februar 1943 bis 5.Juni 1943 kam es laufend zu Ermordungen an den restlichen Juden. Am 23.Juli 1944 wurde Zurawno von der roten Armee besetzt. Die wenigen überlebenden Juden wanderten in der Folge nach Polen und weiter nach Westeuropa ab.
Der letzte verbliebene Jude in Zurawno, Jakov Laufer, starb 1989. Nach seinem Tod wurden die Synagoge und der jüdische Friedhof in Zurawno demontiert und teilweise überbaut, viele Grabsteine wurden wohl als Baumaterial verwendet und es sind daher wahrscheinlich keine Spuren unserer Familie mehr dort zu finden. Heute (2023) existiert das Grundstück des Friedhofes nach wie vor, ist jedoch von weiterer Bebauung bedroht.[Quelle 1] [Quelle 2] Etwa 20 Grabsteine aus dem Zeitraum von 1895 bis 1925 sollen noch vorhanden sein.
Der Wohnort der Familie Günsberg in Zurawno
Der älteste bislang nachweisbare Vorfahre Boruch Günsberg wurde um 1825 in Zurawno geboren, verdingte sich als Taglöhner und gründete mit Schifry eine Familie. Seine Söhne hießen Aron und Jona. Es deutet vieles darauf hin, dass Jona wie viele andere Zurawnoer als Metzger arbeitete. Wohnhaft war die Familie Günsberg im Haus Nummer 221, wie auf dem Katasterplan von 1848 zu sehen.
Katasterplan von Zurawno 1848. [Klick] für volle Auflösung
Google Maps 2023. [Klick] für volle Auflösung
Aufbruch der Familie Günsberg nach Wien
Arons Kinder Baruch und Rachel sowie Jonas Söhne Rafael und Setyk waren dann die erste Günsbergs, die zwischen 1909 und 1918 nach Wien gingen und meist ebenfalls den Beruf des Metzgers ausübten. Hier in Wien erhofften sich die galizischen Immigranten wie viele andere bessere Chancen als im durch den ersten Weltkrieg (1914-1918) großteils verwüsteten Galizien.
Die Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufstieg in Wien um 1900 war nicht unbegründet: die Bevölkerungszahl der Stadt wuchs zu dieser Zeit rasant und Wien hatte mit dieser Bevölkerungsexplosion schwer zu kämpfen, ebenso entwickelte sich jedoch auch der Fleischbedarf fast exponentiell. Die Zurawnoer Viehhändler und Fleischhauer konnten sich in Wien also berechtigterweise gute Chancen ausrechnen. Max Günsbergs Großtante Sabine Brill und ihr Mann Moses hatten schon zwischen 1900 und 1911 eine eigene Fleischhauerei in Wien betrieben. So gab es dann in und rund um die große Fleisch-Markthalle im dritten Bezirk buchstäblich an jeder Ecke Fleischer, insgesamt einige hundert. Allerdings waren die ansässigen Fleischer über die neue Konkurrenz ganz und gar nicht erfreut. Wie bei vielen ähnlichen Gelegenheiten mussten auch in diesem Fall xenophobe und antisemitische Argumente herhalten.
Setyk/Sigmund Günsberg sowie dessen Cousin Baruch/Bernhard Günsberg arbeiteten nach ihrer Ankunft in Wien Ende des ersten Weltkrieges 1917/18 definitiv als Fleischhauer. Baruch Günsberg war zunächst bei einer Fleischerei im 10. Bezirk, Fa. Spuller in der Planetengasse, angestellt, und machte sich später selbständig. Setyk arbeitete als Metzger in der Großmarkthalle im dritten Bezirk in Wien. Setyk war auch karitativ engagiert, wie ein Zeitungsbericht vom 06.08.1922 belegt. Für Setyks tatsächlichen Arbeitsplatz existieren drei nicht mit Sicherheit verifizierbare Vermutungen:
Die Verbindungsbrücke von der Großmarkthalle zur polnischen Fleischmarkthalle in Wien 1930. Bereits kurz danach, zwischen 1931 und 1933, wurde diese Verbindungsbrücke einem großen Umbau unterzogen. Ganz vorne der sehr wahrscheinliche Arbeitsplatz von Setyk Günsberg, entweder links vorne beim Verkaufsstand der Brüder Lempert (siehe das Schild links oben), oder rechts vorne beim Stand von Berthold Eisinger (Schild rechts oben). [Klick] für Bild in voller Auflösung.
Die oft mittellosen „Ostjuden“ waren in Wien alles andere als willkommen, selbst die bereits hier ansässigen und oftmals assimilierten Juden waren nicht gerade begeistert, befürchteten sie doch durch den massenhaften Zuzug zusätzliche Konkurrenz beim Bestreiten ihres oft kärglichen Lebensunterhaltes sowie eine Ausweitung des ohnehin vorhandenen latenten Antisemitismus.
Option zur Staatsangehörigkeit
Mit Ende des ersten Weltkrieges 1918 und durch den Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie in ihre diversen Nachfolgestaaten stellte sich für die nach Wien Migrierten ein neues Problem. Aus allen Teilen der ehemaligen Monarchie strömten Menschen in die ehemalige Residenzstadt, die dadurch aus allen Nähten platzte. Die Folgen waren unglaubliche Armut und Lebensmittelknappheit. Um einer drohenden Hungersnot entgegenzuwirken, suchte die Staatsverwaltung Wege, den Zuzug zu stoppen und nach Möglichkeit zumindest einen Teil der Neuankömmlinge wieder loszuwerden. Breiter Konsens herrschte bezüglich der Repatriierung galizischer, hauptsächlich jüdischer, Einwanderer, die man unter anderem auch durch Übernahme der Fahrtspesen zu einer Rückkehr nach Galizien zu bewegen versuchte. Dieser Maßnahme war jedoch nur überschaubarer Erfolg beschieden. Unter den wenigen, die tatsächlich zurückkehrten, war die Famile von Rafael Günsberg. Wahrscheinlich wollte er sich um seine noch in Galizien verbliebene Familie kümmern.
Als, wie so oft während solcher politischen Phasen, xenophobe deutsch-nationale Politiker an Einfluss gewannen, griff man auf Alternativen zurück. Zunutzen kam dabei nicht unwesentlich der Friedensvertrag von St. Germain und der darin enthaltene, unglücklich formulierte Artikel 80 über das Optionsrecht zur Staatsangehörigkeit. Nach langen Verhandlungen war auf Drängen der österreichischen Delegation unter Führung von Staatskanzler Renner - entgegen einer von den Alliierten eingebrachten Vorlage – vereinbart worden, dass grundsätzlich jeder Bürger der früheren österreichisch-ungarischen Monarchie jenem Staate angehören sollte, in dem sich die Gemeinde befand, in der er heimatberechtigt gewesen war. Darüber hinaus jedoch sollten sowohl "die Bewohner der strittigen und einer Volksabstimmung unterworfenen Gebiete" als auch "Personen fremder Rasse und Sprache" jenen Staat durch Option zur Heimat wählen können, "dem sie nach Rasse und Sprache angehören".
Während man bei deutschsprachigen Optanten aus dem Staatsgebiet der nunmehrigen Tschechoslowakei mehrheitlich auf die Sprache abstellte und deren Anträge meist positiv beschieden wurden, verfuhr man mit den ungeliebten jüdischen Zuwanderern aus Galizien und der Bukowina ganz anders und legte die "Rasse" als Entscheidungskriterium zugrunde. Die Formulierung der anzuwendenden Kriterien "par la race et la langue" im französischen Originaltext des Vertrages war auch insofern problematisch, als dem Begriff "race" im Deutschen und Französischen durchaus unterschiedliche Bedeutungen zukamen. Die deutsche Zuweisung einer ethnischen oder der Religionszugehörigkeit entsprechenden Kategorisierung war im Französischen so nicht vorhanden, sondern dort mit nationaler Konnotation belegt. Daher wurden diese Begrifflichkeiten bei der Begutachtung durch deutsche Übersetzer auch kritisiert, jedoch von den französischen Autoren nicht berücksichtigt. Dies bot antisemitisch eingestellten politischen Funktionsträgern eine willkommene Gelegenheit, jüdischen Optanten aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Glaubensgemeinschaft praktisch ausnahmslos eine Abweisung ihrer Anträge zu erteilen. 1919 wurde sogar die Ausweisung aller galizischen Flüchtlinge in Österreich, die vor dem Krieg noch kein Heimatrecht in einer Gemeinde der nunmehrigen Republik Österreich besessen hatten, beschlossen, dies war allerdings aufgrund logistischer Umstände (zu wenige Transportmittel, nicht aufnahmebereite Staaten, etc..) nicht umsetzbar (Sever-Erlass).
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass immerhin drei der Engler-Brüder (Karl, Salomon und Alfred) zu den ganz wenigen zählten, die dennoch die österreichische Staatsbürgerschaft erhielten. Lediglich Leon Engler teilte das Schicksal der allermeisten galizischen Juden, sein Antrag wurde trotz mehrfachen Einsprüchen und der juristischen Unterstützung durch seinen Bruder Karl ebenso abgewiesen wie die Anträge von Klara Engler, ihrer Tochter Pepi Engler-Morawetz und allen Mitgliedern der Familie Günsberg. Die Argumentation von Leon Engler folgte übrigens exakt der oben beschriebenen Kritik am Friedensvertrag von St. Germain:
Da es für galizische Juden also fast unmöglich war, die österreichische Staatsbürgerschaft zu erhalten, blieb nur der Weg, das der Staatsbürgerschaft de facto gleichgestellte Heimatrecht in Wien anzustreben. Dieses konnte unter anderem durch Ersitzung über einen Zeitraum von zehn ununterbrochenen Jahren Aufenthaltes oder/und durch Beamtentum erlangt werden. Folgerichtig bezeichneten sich viele der Migranten als "Privatbeamte". Auch in den Familiendokumenten und Meldezettel der Englers, Günsberg und Fangers taucht diese Berufsbezeichnung sehr oft auf.
Erst etliche Jahre später, im Jahr 1933, erhielt die Familie von Setyk Günsberg endlich das ersehnte Wiener Heimatrecht. Dadurch erlangten die Günsbergs automatisch auch die Landes- und damit die Bundesbürgerschaft, die, wie oberhalb angeführt, der Staatsbürgerschaft de facto gleichgestellt war.
Trautes Familienleben im Wien der 1930er Jahre
2021 versammelte sich die Familie virtuell nochmal zum gleichen Foto:
Auf dem nachfolgenden Foto sind auch Max Günsbergs Großmutter Pessi Singer und Großtante Klara Engler abgebildet:
Die Katastrophe: 1938
Nach dem Anschluss Österreichs an das deutsche Reich am 12.03.1938 und der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten fand das traute Familienleben ein jähes Ende. Die Familie von Max Günsberg wurde bis auf ihn selbst ausgelöscht. Sein Vater Setyk, ein verdienter Veteran des ersten Weltkrieges, verstarb 1940 in Wien wie zahlreiche andere jüdische Zeitgenossen an durch Schikanen und Erniedrigungen ausgelöste Krankheit mit nur 45 Jahren. Seine Mutter Etti, seine Schwestern Herta und Rita, sein Onkel Abraham David samt Frau und Kindern sowie Baruch, der Sohn seines Großonkels Aron, wurden im Zuge des Holocaust deportiert und ermordet. Das Schicksal seiner galizischen Tanten Chaje, Perl, Leicie und Szyfra sowie seiner Onkel Rafael und Sindel ist ungewiss, ein Holocaust-Schicksal ist jedoch so gut wie sicher. Zu seinem Onkel Nathan Günsberg in den USA bestand offenbar nie Kontakt. Max erklärte zeitlebens, dass niemand aus seiner Familie überlebt hätte. Max Günsberg flüchtete 1938 in die Schweiz, kehrte 1949 wieder nach Wien zurück und starb hier im Jahr 1976.
Die Shoa-Bilanz der Familie von Max Günsberg ist niederschmetternd - außer ihm selbst hat niemand den Holocaust überlebt.
Die nächsten überlebenden Verwandten zweiten Grades waren Baruch Günsbergs Sohn Erich Günsberg alias John Eric Garfield und dessen Mutter, Baruchs geschiedene Frau, Freude Günsberg, denen die Flucht nach England gelang. John Eric Garfield war mehrmals verheiratet und hatte vier Kinder, die nach wie vor in England leben. Er starb in London 2004. Max Günsberg hatte aber offenbar nie Kontakt zu oder auch nur Kenntnis von ihm.
Auch von der Familie Engler gab es Überlebende, zu denen Max Günsberg nach dem Krieg jedoch keinen Kontakt hatte, da er offensichtlich ebenso keine Kenntnis ihres Verbleibens hatte. Ohne die heutzutage üblichen Hilfsmittel wie Internet und soziale Medien gab es kaum Möglichkeiten sich diesbezüglich zu informieren.
Nach dem Krieg heiratete Max Günsberg zwei mal. Diesen Ehen entstammen drei Söhne. Zwei dieser Söhne (Alexander und Georg) leben heute in der Schweiz, ein Sohn (Gerhard) lebt mit seiner Familie in Wien nach wie vor in dem Haus, das Max Günsberg 1974, erst kurz vor seinem Tod, erworben hatte. Die durchaus interessante Geschichte dieses Hauses im 23. Wiener Gemeindebezirk, welches bis heute als Stammsitz der Wiener Günsbergs dient, ist [hier] abrufbar.
Auf den Shoa-Namensmauern in Wien sind die Namen von Baruch, Etie, Herta und Rita Günsberg in Granit verewigt. Auch das Buch der Namen in Yad Vashem beinhaltet ihre Namen.