Motivation

Am 1.Jänner 2020 wusste ich über die Vorfahren und das frühere Leben meines Vaters Max Günsberg - NICHTS. Im Laufe der Zeit wurde mir bewusst, dass auch die Herkunft meiner mütterlichen Familie ein großes schwarzes Loch darstellte. Damals aber war mein Vater der Hauptanknüpfungspunkt.

Er war 1976 viel zu früh verstorben und hatte es aufgrund seiner drastischen Erfahrungen während der Shoa vorgezogen, seine junge Familie und wohl auch sich selbst nicht mit seiner Vergangenheit zu belasten. Und das tat er gründlich, er verlor darüber kaum ein Wort. Freilich ermöglichte er mir damit ein geborgenes, unbeschwertes Aufwachsen ohne meine Umwelt schon als Kind argwöhnisch zu hinterfragen, ob nicht vielleicht der Busfahrer, der Lehrer oder sonst jemand etwas mit der Ermordung meiner Familienangehörigen zu tun haben könnte. Auf diese Weise nahm er mir auch nicht den mütterlichen Großvater Franz Mann, der beileibe kein diesbezüglich unbeschriebenes Blatt gewesen und als NS-Funktionär, wie ich erst viel später erfahren sollte, sehr aktiv war. Wie sehr mein Großvater dabei tatsächlich involviert gewesen war ließ mein Opa seine Umgebung und auch seine zwei Kinder, demnach meine Mutter und meinen Onkel, die 1940 bzw. 1946 geboren worden waren und daher nichts bewusst mitbekommen hatten, nie wissen. Und seine Frau, meine Großmutter Julianna Mann, obwohl ein einfaches Mädel vom Land, die noch nicht einmal einen Erlagschein auszufüllen imstande war, schwieg ebenfalls eisern bis an ihr Lebensende. Das hatte ihr Ehegatte ihr offenbar unauslöschlich eingebläut.
Aber auch wenn dieser Opa nie etwas zugab - dass da etwas gewesen sein musste konnte man zumindest erahnen. Gott weiß, wie schwer meinem Vater Max Günsberg das Schweigen im Beisein seines Schwiegervaters oftmals gefallen sein muss. Umso mehr bei den unvermeidlichen Familienzusammenkünften anlässlich von Geburts- und Feiertagen. Wobei - es gab da oft dicke Luft, aber das verstand ich als Kind natürlich nicht und erklären wollte es mir niemand.

Ich wusste die Namen von meines Vaters Max´ Mutter, demnach meiner Großmutter Etti und seiner Schwestern, also meiner Tanten Herta und Rita, die auf unbekannte Weise im Holocaust verschollen waren, und dass die Familie irgendwo aus dem Osten Europas stammen sollte. Meine Unwissenheit ging soweit, dass ich, bereits erwachsen, in einem Restaurant in Sofia die um mich herum sitzenden Männer betrachtete, eine Ähnlichkeit mit mir phantasierte und schlussfolgerte, dass meine Familie aus dieser Gegend stammen müsste.
Dazu ein paar wenige unkommentierte Fotos. Keinerlei Information gab es über seinen Vater, meinen Großvater, den er nie erwähnt hatte (ich wusste nicht einmal dessen Namen), geschweige denn andere Familienmitglieder.
Von seinem Leben vor meiner Geburt wusste ich lediglich von zwei in Italien geborenen Brüdern aus seiner ersten Ehe, bevor er meine um 20 Jahre jüngere Mutter namens Gerlinde Mann kennengelernt hatte. Ansonsten hatte das Leben meines Vaters nach meinem Wissensstand von 2020 quasi erst mit meiner Geburt (1964) begonnen.


Seinen frühen Tod, zu dessen Zeitpunkt ich zwölf Jahre alt war, konnte ich als Kind nicht begreifen. Jahre später fing ich immer öfter zu träumen an – Papa ist gar nicht tot, er musste nur dringend weg und kommt jetzt zu seiner Familie zurück, er wartet schon am Frühstückstisch. Am Morgen war das Gefühl manchmal derart real, dass ich aufstand und nach ihm suchte – mein Gehirn hatte begonnen den Verlust zu verarbeiten. Und diese Träume begleiteten mich bis in meine 40er. Und je mehr ich von der Welt mitbekam, mehrten sich auch meine Fragen. Aber derjenige, der sie mir hätte beantworten sollen, war nicht mehr da.

Noch heute ist Papa sehr oft präsent, ich frage ihn längst nicht mehr und beantworte Fragen meiner eigenen Kinder, aber ich stelle mir bei unzähligen Gelegenheiten seine Reaktion auf die Welt von heute vor. So denke ich alle paar Tage an ihn, das wird sich wohl auch nicht mehr ändern. Er hätte diese Welt mit all ihrem technischen Firlefanz geliebt, immer wieder kam er stolz mit irgendwelchem elektronischen Klimbim daher.

Meine Fragen an ihn blieben jedoch unbeantwortet und irgendwann entstand das Bedürfnis, die Ungewissheit bezüglich meiner väterlichen Wurzeln zumindest ansatzweise zu tilgen.


Von meinem Bruder hatte ich mitbekommen, dass Max 1938 durch seine Flucht in die Schweiz und das Zutun des Schweizer Polizeihauptmannes Paul Grüninger dem Holocaust entkommen konnte. Wie das aber wirklich abgelaufen war, davon wusste er auch nichts. Die Segnungen des Internet brachten mich auf ein Buch, das Grüningers Wirken zum Inhalt hatte. Und dort schrieb der Autor Jörg Krummenacher-Schöll in einer Fußzeile mit Quellenangaben von Flüchtlingsakten im Staatsarchiv in St. Gallen. Sollte da etwas über meinen Papa zu finden sein?

St. Gallen ist aber doch ein Stück von Wien entfernt. Allerdings war ein Schiurlaub mit meinen Kindern Dominik und Iris am Arlberg und damit schon ziemlich nahe an der Schweizer Grenze ohnehin für Mitte Jänner geplant. Gesagt, getan - zwei E-mail und zwei Anrufe später besuchte ich während des Schiurlaubes mit meiner Tochter Iris das Archiv. Und bekam große Augen ob der Fülle der in dem dort aufliegenden Dossier vorhandenen Unterlagen über meines Vaters Max immerhin zehnjährigen Aufenthalt in der Schweiz.


Von diesen Quellen ausgehend forschte ich in Wien weiter und konnte nach einigen Monaten ein Buch über die Lebensgeschichte meines Vaters Max Günsberg zum Abschluss bringen.
Die Familiengeschichte und seine Herkunft konnte ich darin allerdings nur rudimentär darstellen, es kamen eher einige vage Vermutungen als belastbare Fakten ans Licht. Auch über seine Jugend in Wien wusste ich noch kaum etwas. Und jedes Mal, wenn ich der Meinung war, nun alles Findbare gefunden zu haben, kam doch wieder etwas dazu. Das führte zu einer nicht enden wollenden Kaskade an Überarbeitungen meines Buches.

Ein Satz meines bücherschreibenden Bruders Sandro kam mir in den Sinn: "Wenn Du ein Buch schreibst, wirst Du nie wirklich fertig." Wie wahr, gerade bei dieser Materie!

Nebenbei bemerkt: die Suche nach Aufzeichnungen und Spuren von Vorfahren in den, nach dem Zerfall der k.u.k. Monarchie Österreich-Ungarn entstandenen, Archiven der Nachfolgestaaten, erfordert in weiten Teilen fast detektivische Anstrengungen, da viele Aufzeichnungen entweder nicht digitalisiert oder noch nicht indexiert sind, vieles aber auch schlicht und einfach in den Wirren des unruhigen 20. Jahrhunderts verloren ging und vernichtet wurde. Sehr oft sind daher Fußnoten und nebensächliche Bemerkungen in den vorhandenen Dokumenten die einzigen weiterführenden Hinweise. Hilfreich hingegen war, dass ein beträchtlicher Teil der Familiengeschichte im heutigen Österreich und teilweise auch in den USA stattfand. Und darüber war im Laufe von einigen Jahren dann doch eine ganze Menge an Unterlagen in Archiven zu finden. Nie hätte ich für möglich gehalten, welche Fülle an Informationen vorhanden ist und wie groß Max Günsbergs Familie tatsächlich war.


Fazit

Das hauptsächliche Identifikationsmerkmal der nationalsozialistischen Ideologie war die Unterscheidung zwischen dem "Wir" der arischen Volksgemeinschaft und den "Anderen", also allen denjenigen, die mehr oder weniger willkürlich als nicht dieser Gemeinschaft angehörig klassifiziert wurden.

Ich gehöre als Sohn eines jüdischen Vaters und Enkel (mütterlicherseits) eines eifrigen Nationalsozialisten je nach Sichtweise keiner oder beiden dieser Gruppen an. Also entweder sowohl dem "Wir" als auch den "Anderen" oder aber weder noch. Freilich prädestiniert mich dieser Umstand, einerseits ohne Ressentiments über meinen mütterlichen Großvater Franz Mann als überzeugten und aktiven Teil des NS-Regimes zu berichten, und andererseits den Leidensweg meines Vaters Max Günsberg und seiner jüdischen Familie nachzuzeichnen. Hoffentlich gelingt mir das ohne übertriebenen Pathos.

Wie ich feststellen konnte, stehe ich unter meinen Altersgenossen mit dieser Herangehensweise allerdings ziemlich alleine da und ich habe auch durchaus Verständnis dafür. Wer hat schon großes Interesse an der möglicherweise kompromittierenden NS-Vergangenheit seines liebevollen Vaters oder Großvaters. Im Grunde ist es tatsächlich irrelevant. Für das Verständnis meiner eigenen Familiengeschichte aus gänzlich unterschiedlichen Perspektiven ist es jedoch essentiell. 


War ich zu Beginn der Auseinandersetzung mit dem Thema des Holocaust und dessen Aufarbeitung noch der Überzeugung, dass man in Österreich Jahrzehnte nach Kriegsende lediglich einen Schlussstrich unter eine unrühmliche Vergangenheit setzen wollte, musste ich im Zuge meiner Recherchen und ein Geschichtsstudium später leider immer mehr erkennen, dass man tatsächlich die Täter, und ich meine nicht die unzähligen Opportunisten, sondern viele skrupellose Massenmörder des NS-Regimes, bewusst schonen wollte und dies teilweise noch heute andauert. Im Mai 1945 war demnach lediglich ein Krieg verloren worden und man durfte die bis dahin im dritten Reich vorherrschende Weltanschauung nicht mehr öffentlich vertreten. Ein plötzlicher Sinneswandel oder ein Unrechtsbewusstsein war und ist hingegen weitgehend nur eine romantische Wunschvorstellung.

Als Österreicher besonders beschämend erscheint die Tatsache, dass gerade aus der "Ostmark" unverhältnismäßig zahlreiche und meist auch überaus eifrige Mörder hervorgingen. Gerne versteckten sich die Österreicher jahrzehntelang hinter der bekannten These des "ersten Opfers" und schoben den ach so bösen Deutschen möglichst alle Schuld zu. Auch die Aufarbeitung nach dem Krieg wurde in Österreich aus dem selben Grund noch halbherziger betrieben als in Deutschland.

In unserer heutzutage fragwürdig aufgeklärten und liberalen "das wird man ja noch sagen dürfen" Gesellschaft, und eines damit verbundenen erneut immer stärker auflebenden Antisemitismus, tritt dies deutlicher denn je zu Tage.

Die detaillierte Auseinandersetzung mit den Schicksalen meiner väterlichen Familie ist aus diesem Grund nicht immer einfach, mir aber gerade deshalb unter dem Motto  "Ausgelöscht ist nur, wer vergessen wird" ein tiefes Bedürfnis.

Zudem gehöre ich einer Generation an, deren zeitlicher Abstand zu den Ereignissen des Holocaust diese Auseinandersetzung überhaupt erst ermöglicht. Viele Zeitzeugen wie mein Vater und auch viele Nachkommen, die emotional noch unmittelbarer als ich betroffen sind und waren, sahen sich dazu ganz offenbar nicht in der Lage und haben geschwiegen. Auch heutzutage sehe ich viele Altersgenossen der bereits zweiten Nachgeborenengeneration, die sich aus den oben genannten Gründen augenscheinlich nicht damit belasten wollen.

Ob mein Zugang der richtige ist, weiß ich nicht. Für mich persönlich ist er alternativlos. 


Die vorliegende Homepage mit Links und Querverweisen soll nun hoffentlich das Mittel der Wahl sein, um das Unübersichtliche übersichtlich und das unendlich zu Überarbeitende zumindest möglich zu machen.

Sie ist mein Beitrag, die Erinnerung an meine väterlichen Vorfahren, die man spurlos zu tilgen versuchte, lebendig zu erhalten.

Die Tatsache, dass diese Homepage hoffentlich von zahlreichen Nachfahren und anderen Interessierten besucht und gelesen wird, beweist die Sinn- und Erfolglosigkeit dieser Tilgungsversuche.


Gerhard Günsberg


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