Etie Feige Singer

Verwandtschaft zu Max Günsberg: Mutter

Etie Etti Feige Günsberg

Etie Feige Singer-Engler wurde am 14.07.1890 als Tochter von Moses Engler und Pesie Singer in Jucica Noua, damals eine eigenständige Gemeinde im Gerichtsbezirk von Sadagora, heute als Neu-Zuczka ein Stadtteil von Czernowitz, der Hauptstadt des damaligen (bis 1918) österreichischen Kronlandes Bukowina, als deren erstes Kind geboren. Nach ihr bekamen Moses und Pessi noch die drei Söhne Abraham DavidSindel und Eisig. Bereits kurz nach der Geburt der Kinder starb Ettis Vater Moses Engler, er wurde am 30.06.1896 am neuen jüdischen Friedhof in Czernowitz beerdigt. Sein Grabstein wurde vom Comis- und Buchhalter-Unterstützungsverein gewidmet, was auf seine berufliche Tätigkeit schließen lässt.
Etie (Etti) zog mit ihrer verwitweten Mutter Pessi Singer-Engler und den beiden Brüdern Abraham und Sindel 1916 nach Wien. Sie wohnten hier im selben Haus in 1030 Wien, Radetzkystraße 10, in dem bereits seit 1914 Pessis Schwägerin und deren Mann, das Ehepaar Isaak und Klara Engler mit deren Kindern wohnten. Pessi wohnte mit ihren Kindern anfänglich im obersten Stockwerk auf Tür Nummer 18, ab 28.02.1917 dann  im ersten Stock, Tür Nr. 5. Klara und Isaak bewohnten mit ihren Kindern eine Wohnung im zweiten Stock, Tür Nr. 14. Eine ihrer Töchter, Fani Engler-Krumholz, wohnte jedoch mit ihrem kleinen Sohn Wilhelm ebenfalls bei Pessi Singer und ihren drei halbwüchisgen Kindern, da offensichtlich bei Klara und Isaak zu wenig Platz war. In der Wohnung Nr. 5, die kaum 20m² maß und heutzutage als Fahrradabstellraum dient, muss es demnach unglaublich beengt zugegangen sein. Für die meist bettelarmen galizischen Zuwanderer war dies aber völlig normal.

Die oft mittellosen „Ostjuden“ waren in Wien jedoch alles andere als willkommen, selbst die bereits hier ansässigen und oftmals assimilierten Juden waren nicht gerade begeistert, befürchteten sie doch durch den massenhaften Zuzug zusätzliche Konkurrenz beim Bestreiten ihres oft kärglichen Lebensunterhaltes sowie eine Ausweitung des ohnehin vorhandenen latenten Antisemitismus. “Für Juden und Jüdinnen sollte der Weg zur Erlangung einer neuen Staatsbürgerschaft in einem der Nachfolgestaaten ein häufig langwieriger und mühevoller Prozess werden“. Dazu trug nicht unwesentlich auch der Friedensvertrag von St. Germain und der darin enthaltene, unglücklich formulierte Artikel 80 über das Optionsrecht zur Staatsangehörigkeit bei, der antisemitischen politischen Funktionsträgern eine willkommene Gelegenheit bot, jüdischen Optanten eine Abweisung ihrer Anträge zu erteilen. 1919 wurde sogar die Ausweisung aller galizischen Flüchtlinge in Österreich, die vor dem Krieg noch kein Heimatrecht in einer Gemeinde der nunmehrigen Republik Österreich besessen hatten, beschlossen, dies war allerdings nicht umsetzbar (Sever-Erlass).
Da es für galizische Juden also fast unmöglich war, die österreichische Staatsbürgerschaft zu erhalten, blieb nur der Weg, das der Staatsbürgerschaft de facto gleichgestellte Heimatrecht in Wien anzustreben. Dieses konnte unter anderem durch Ersitzung über einen Zeitraum von zehn ununterbrochenen Jahren Aufenthaltes oder/und durch Beamtentum erlangt werden. Folgerichtig bezeichneten sich viele der Migranten als "Privatbeamte". Auch in den Familiendokumenten und Meldezettel der Englers, Günsbergs und Fangers taucht diese Berufsbezeichnung unverhältnismäßig oft auf. Erst etliche Jahre später, im Jahr 1933, erhielt die Familie von Setyk Günsberg, natürlich auch Etti, endlich das ersehnte Wiener Heimatrecht. Dadurch erlangten die Günsbergs automatisch auch die Landes- und damit die Bundesbürgerschaft, die, wie oberhalb angeführt, der Staatsbürgerschaft de facto gleichgestellt war.

Setyk Günsberg war in Zurawno in Galizien geboren worden, hatte im ersten Weltkrieg in der k.u.k Armee gedient, und kam als Kriegsinvalide im Jahr 1917 von Krakau nach Wien. Er wohnte von 1917-1919 mit seinem Bruder Rafael und seinem Cousin Baruch im dritten Bezirk in der Adamsgasse. Als Zivilberuf übte er wie schon in seiner galizischen Heimat den Beruf des Metzgers aus. Etti Singer-Engler lebte quasi „um´s Eck“ in der Radetzkystraße 10. Etti und Setyk mussten einander fast zwangsläufig über den Weg laufen und sich kennenlernen, vielleicht sogar im traditionsreichen Cafe Klein in der Radetzkystraße, das schon in den 1880ern die Ochsenschaffer aus Zurawno zu ihrem Stammlokal erkoren hatten.

Mit großer Wahrscheinlichkeit lernten sich Setyk und Etti jedoch im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit in der Fleisch-Markthalle kennen. Setyk arbeitete dort ebenso wie der Czernowitzer Fleischer Berthold Eisinger, der bei Setyks und Ettis Hochzeit 1919 als Trauzeuge des jungen Paares fungierte und ab 1920 einen eigenen Stand in der Markthalle betrieb. Zudem stammte Ettis Famile ebenfalls aus Czernowitz und Etii kannte den Fleischer wohl bereits von dort.

Geheiratet haben Setyk und Etti am 11.02.1919, also gerade einmal drei Monate nach Ende des ersten Weltkrieges, im Büro des Rabbiners Dr. Grunwald gleich neben dem Wiener Haupttempel im ersten Bezirk in der Seitenstettengasse 4. Laut einem ehemaligen dortigen Mitarbeiter wurde die Adresse im Trauungsbuch nur angegeben wenn die Trauung im Büro statt im Tempel vollzogen wurde. Bei solchen Eheschließungen wurde auch nicht so sehr auf eigentlich verpflichtend vorzulegende Dokumente geachtet. Dadurch fiel nicht auf, dass Etti keine Heiratsurkunde ihrer Eltern vorlegen konnte. Etti wurde also in ihrem Heiratsmatrikel als ehelich geborene Engler verzeichnet.
Aufgrund des in vielen Dokumenten vorhandenen Doppelnamens Engler-Singer lässt sich ableiten, dass Ettis Eltern Moses Engler und Pessi Singer in Zucka in einer nicht der israelitischen Kultusgemeinde (IKG) zuzuordnenden Synagoge geheiratet haben. Dem damaligen Streit zwischen dem Oberrabbinat von Czernowitz (in der Chereskulgasse/heute Shchepkina) und dem Zaddiken von Sadagora ist zu verdanken, dass die dortigen Bücher erst nach 1901 vorhanden sind und aufgrund dieses Streits die Ehe nicht verzeichnet wurde und daher bei Behörden als nicht rechtskräftig galt. Also wurden auch die Kinder dieser Ehe nicht legitimiert. Sie wurden nachträglich als unehelich vermerkt und mussten ebenso wie ihre Mutter Pessi den Mädchennamen der Mutter, Singer, annehmen. Diese Namensänderung erfolgte erst in Wien im Jahre 1926 und wurde in Ettis Dokumenten nachträglich vermerkt.

Als Etti und Setyk Günsberg 1919 heirateten, war es in der Wohnung von Ettis Mutter Pessi Engler wohl zu eng. Die Platzverhältnisse in der Wohnung Nummer 5 im Erdgeschoss des Hauses Radetzkystraße 10, die kaum mehr als 20 m² maß und heute als Fahrradabstellraum dient, sind heute kaum vorstellbar, waren für die meist bettelarmen galizischen Immigranten aber wohl durchaus üblich. Zu diesem Zeitpunkt wohnten hier Etti, ihre Brüder und ihre Mutter und zusätzlich Ettis Cousine Fani Krumholz(Engler) mit ihrem kleinen Sohn Wilhelm, da die Wohnung ihrer eigenen Eltern Klara und Isaak Engler im selben Haus ebenfalls aus allen Nähten platzte. Das frisch getraute Ehepaar Setyk und Etti Günsberg zog an eine andere Adresse, vorerst (bis 02.06.1919) in die untere Viaduktgasse 33/8 im dritten Bezirk. Danach erfolgte für einige Monate (02.06.1919 – 03.02.1920) ein Umzug in die Radetzkystraße 17/II und dann in die Hetzgasse 43/9, wo ihr Sohn Max Günsberg am 15.03.1920 bei einer Hausgeburt zur Welt kam. Als wiederum Fani und Josef Krumholz ihr zweites Kind (Robert) erwarteten, suchten sie sich ebenfalls eine eigene Wohnung. Dadurch wurde bei Pessi wieder Platz, Etti und Setyk konnten mit dem kleinen Max wieder bei Ettis Mutter Pessi in der Radetzkystraße 10 einziehen.

Am 11.02.1925 kam in Wien im 10. Bezirk in der Knöllgasse 22-24 im Kaiserin Elisabeth-Wöchnerinnenheim Ettis und Setyks Tochter Herta zur Welt. Hier wurden bedürftige Ehefrauen – unabhängig von ihrer Religion – vor ihrer Niederkunft unentgeltlich aufgenommen und während des Wochenbetts verpflegt. Es dürfte auch kein Zufall sein, dass die Entbindung von Herta und dann auch fünf Jahre später ihrer Schwester Rita nicht als Hausgeburt mit einer Hebamme wie beim erstgeborenen Bruder Max Günsberg, sondern unter ärztlicher Aufsicht in Entbindungsanstalten erfolgte. Etti war für damalige Verhältnisse mit 35 bzw. 40 Jahren eine sehr späte Mutter.

Mit zwei kleinen Kindern wurde es offensichtlich in Pessis Wohnung erneut zu eng. Familie Günsberg bezog nunmehr am 13.08.1926 erstmals eine eigene Wohnung in Hauptmiete in 1030 Wien, Obere Weißgärberstraße 28/3. Ab diesem Zeitpunkt ist die Familie Setyk Günsberg auch im Wiener Adressbuch zu finden.

Exakt an ihrem 40. Geburtstag entband Etti am 14.07.1930 eine weitere Tochter namens Rita im 18. Bezirk, Wielemansgasse 28, in der Entbindungsanstalt der Angestellten der Wiener Kaufmannschaft.

Herta, Rita und Max Günsberg

Herta, Rita und Max Günsberg, um 1931

Am 18.05.1936 zog Etti mit ihrer Familie in eine neue Bleibe nicht weit von der alten, ebenfalls im dritten Bezirk, in der Löwengasse 2/6.

Nach dem Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland am 12.03.1938 wurde auch Familie Günsberg schnell klar, dass eine äußerst ungewisse Zukunft bevorstand. Das Geld wurde sehr schnell knapp, also versuchten Etti und Setyk durch Verkauf der Wohnungseinrichtung über die Runden zu kommen. Dann versuchten sie ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Sohn Max flüchtete am 15.08.1938 in die Schweiz, die minderjährigen Töchter sollten nach einem Erholungsurlaub im Sommer 1938 in der Schweiz bleiben, was aber nicht von Erfolg gekrönt war. Für sich selbst und seine Frau Etti sah Setyk offenbar nur geringe Gefahr. Er maß seinen militärischen Leistungen und seiner Verwundung Schutzwirkung als "verdienter Jude" zu. Das lässt sich in der NS-Diktion von sogenannten verdienten Juden durchaus nachvollziehen.

Nach dem Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland am 12.03.1938 wurde auch Familie Günsberg schnell klar, dass eine äußerst ungewisse Zukunft bevorstand. Am 17.06.1938 füllte Ettis Mann Setyk Günsberg wie alle anderer Juden einen Auswanderungsfragebogen aus, als Auswanderungsziel nannte er Nordamerika. Ettis Sohn Max Günsberg erzählte später, dass, wie bei unzähligen anderen jüdischen Familien, versucht wurde, in Amerika ansässige Sponsoren für das Aufbringen der "Reichsfluchtsteuer" zu finden. Zu diesem Zweck wurden amerikanische Telefonbücher nach dem Namen Günsberg durchkämmt und eine Kontaktaufnahme versucht. Wie bei den meisten Auswanderungswilligen war dies jedoch erfolglos. Setyk und Etti versuchten in der Folge wenigstens ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Sohn Max flüchtete am 15.08.1938 in die Schweiz, die minderjährigen Töchter sollten nach einem Erholungsurlaub im Sommer 1938 in der Schweiz bleiben, was aber nicht von Erfolg gekrönt war. Für sich selbst und seine Frau Etti sah Setyk offenbar nur geringe Gefahr. Er maß seinen militärischen Leistungen und seiner Verwundung Schutzwirkung als "verdienter Jude" zu. Das lässt sich in der NS-Diktion von sogenannten verdienten Juden durchaus nachvollziehen. Im Jahr 1939 waren offenbar die finanziellen Reserven aufgebraucht, also versuchten Etti und Setyk durch Verkauf der Wohnungseinrichtung über die Runden zu kommen.

Zu dieser Zeit gab es noch regen Schriftwechsel zwischen Ettis Sohn Max Günsberg, der 1938 in die Schweiz emigriert war, und seiner Familie, wovon auch dieses Brief-Fragment aus dem Zeitraum 1939/40 zeugt, in dem Etti ihrem Maxi innige Grüße und Küsse sendete. Ebenfalls gegrüßt wurde er in diesem Schreiben von Ettis Mutter, also seiner Großmutter Pessi Engler-Singer, die zu dieser Zeit bereits im Altersheim in der Seegasse untergebracht war, sowie von Ettis Bruder und damit seinem Onkel David Singer, der nach wie vor mit seiner Familie in der winzigen Wohnung in der Radetzkystraße 10/5 lebte.

Neben unzähligen anderen Schikanen mussten Juden ab 01.01.1939 gemäß einer Namensänderungsverordnung einen Vornamen annehmen, der ihre jüdische Herkunft ersichtlich machte. So erklärt sich der Zusatzname Sara, den Etti ab diesem Zeitpunkt tragen musste.

Am 03.04.1940 starb Ettis Mutter Pessi im Alter von 80 Jahren im jüdischen Altersheim in der Seegasse in 1090 Wien.

Nur kurz darauf traf sie der nächste Schicksalschlag: am 21.08.1940 starb Ettis Mann Setyk Günsberg und wurde am 23.08.1940 am neuen jüdischen Friedhof des Wiener Zentralfriedhofes begraben. Etti übernahm [natürlich] die Vormundschaft für ihre beiden Töchter. Der Tod des Mannes und Vaters muss für die Familie nicht nur im familiären Sinn eine Katastrophe gewesen sein. Setyk hatte durchaus zu Recht seinen Verdiensten im ersten Weltkrieg eine gewisse Schutzfunktion zugeschrieben. Nur deshalb hatten die Günsbergs bis zu Setyks Tod 1940 immer noch ihre Wohnung in der Löwengasse, während aus den ehemals 70.000 in Wien von Juden bewohnten Mietwohnungen bis 1939 fast alle vertrieben worden waren. Durch sein Ableben war dieser Schutz dahin. Zudem wurde kurz danach, am 10.09.1940, der theoretische Mieterschutz für Juden und Jüdinnen gänzlich aufgehoben. Folgerichtig mussten Etti und ihre beiden Mädchen die Wohnung am 15.10.1940 räumen und wohnten dann im ersten Bezirk am Franz-Josefs-Kai 5/12a in einer Sammelwohnung mit zumindest sechzehn weiteren, fremden Personen.

Im Mai 1941 wurde Ettis 16-jährige Tochter Herta zur Zwangsarbeit in Nordhausen, Deutschland, abkommandiert. Zu diesem Zeitpunkt versuchte Etti die kleine Rita doch noch im Ausland in Sicherheit bringen zu können, indem sich Rita der Jugendalijah anschloss. Das war zu diesem Zeitpunkt aber bereits aussichtslos.

Am 28.05.1941 schrieb Etti ihrem Sohn "Maxi" Günsberg einen, möglicherweise sogar den letzten, Brief von "Mama Etie". In diesem Schreiben erwähnt sie abgesehen von innigen Grüßen unter anderem die Internierung seiner Schwester Herta in Tangermünde an der Elbe sowie die Bitte, für seinen knapp ein Jahr zuvor verstorbenen Vater Setyk am 9. August abends eine Kerze für die Jahrzeit ("...am 17.Aw, das ist der 10. August...") zu entzünden.
[Jahrzeit bezeichnet das Ende einer Trauerperiode, genau ein Jahr (nach jüdischem Kalender, also 354 Tage) nach dem Tod eines Angehörigen. Zu diesem Anlass wird eine Kerze angezündet, die 24 Stunden brennen soll]


Am 20.01 1942 wurde auf der sogenannten Wannseekonferenz die „Endlösung“ der Judenfrage in Form der Vernichtung von elf Millionen europäischen Juden besprochen und organisiert. Zu diesem Zweck wurden im Zuge der berüchtigten „Aktion Reinhardt“ die drei Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka eingerichtet und allein in diesen Lagern im Verlauf von knapp eineinhalb Jahren unfassbare 1,7 Millionen Menschen ermordet.

Das Lager Maly Trostinec etwa 12km südlich von Minsk in Weißrussland/Belarus war zwar kein Teil der industriellen Vernichtungsmaschinerie der "Aktion Reinhardt", trotzdem wurden dort mehr Wiener Juden und Jüdinnen als in den meisten anderen KZ getötet, lediglich in Auschwitz-Birkenau war die Anzahl der Getöteten aus Wien noch höher. Erst in den letzten Jahren in den Focus der Geschichtswissenschaft gerückt, zählt dieses Lager heutzutage mit sechs anderen Tötungsstätten zur Klasse der Vernichtungslager. Von den sechzehn Deportationszügen, die aus dem Westen des deutschen Reiches kommend zwischen November 1941 und Oktober 1942 Maly Trostinec als Ziel hatten, kamen neun aus Wien, jeweils mit rund tausend Personen besetzt. Insgesamt wurden in diesem Lager zwischen 40.000 und 150.000 Menschen ermordet, die meisten kamen aus dem Ghetto Minsk. Genauere Opferzahlen sind nicht feststellbar, da über die meisten Bewohner des Ghettos ebenso wie in den anderen besetzen osteuropäischen Gebieten keine Aufzeichnungen geführt wurden. In den aus Wien ankommenden neun Deportationszügen befanden sich rund 8.700 Menschen. Es sind lediglich 17 Überlebende aus dem Lager Maly Trostinec bekannt.


Die IKG erhielt etwa vierundzwanzig Stunden vor einer "Aushebung" von der "NS-Zentralstelle für jüdische Auswanderung" die Liste mit den Namen der zur Deportation vorgesehenen Personen und musste für deren Erscheinen an den Sammelstellen sorgen. Die meisten jüdischen Bewohner aus dem Haus am Franz-Josefs-Kai 5 außer Etti, Herta und Rita wurden bereits am 20.05.1942 nach Weißrussland verbracht. Die Familie Günsberg kam hingegen erst am 02.06.1942 an die Reihe und wurde "ausgehoben", wie der Eintrag "M.Tr." [Maly Trostinec] auf der Hausliste zeigt.

Aus dem Fotoalbum von Alois Brunner

Vorbereitung eines Deportationstransportes im Hof des Sammellagers Kleine Sperlgasse 2a. Fotoalbum des SS-Scharführes Josef Weiszl aus dem Jahr 1942.

Nachdem die drei auf dem Schulgelände bzw. im Turnsaal in der Kleinen Sperlgasse 2a, einem der Sammellager, die in ehemaligen jüdischen Schulen eingerichtet worden waren, auf die berüchtigte „Kommissionierung“ zum Abtransport gewartet hatten und Etti einen Vermögensverzicht zugunsten des deutschen Reiches zu unterzeichnen hatte, wurden sie auf offenen LKWs unter den Schmähungen vieler Passanten über die Strecke Schwedenplatz-Ring-Ungargasse zum Bahnhof gebracht.

"Schau Dir an, die Juden. Naja, schleicht’s euch, san wir froh, dass wegfahrts" (Herbert Schrott, KZ-Überlebender aus Wien)


Zusammen mit etwa 1000 weiteren Juden erfolgte mit Transport Nr. 24, Zugnummer Da205 der deutschen Reichsbahn die Deportation vom damaligen Aspangbahnhof (Die Zugnummer Da... verweist auf eine dem gelben Stern auf der Kleidung entsprechende Kennzeichnung dieser Züge mit dem Kürzel für David). Am 4. Juni hielt der Zug in Wolkowysk im südwestlichen Weißrussland, wo sämtliche Passagiere von Personenwagen in Güterwaggons umgeladen wurden. Am 3. Juni hatte die Direktion der Reichsbahn Mitte mitgeteilt, dass mit Da gekennzeichnete Züge (die übliche Kennzeichnung von Judentransporten) einen Tag früher als geplant von Wolkowysk nach Koydanovo fahren würden. Deshalb fuhr der Zug bereits am Donnerstag, dem 4. Juni von Wolkowysk ab. In Koydanovo wurde der Zug wegen des Wochenendes über mehrere Tage unter Bewachung abgestellt. Es fällt schwer, sich die unbeschreiblichen Zustände in den geschlossenen und versiegelten Güterwaggons, die über mehrere Tage weder zur Notdurft noch aus anderem Grund verlassen werden durften, auszumalen. Regelmäßig erlebten einige Opfer aufgrund der Strapazen die Ankunft am Deportationsziel nicht mehr, die anderen waren zu diesem Zeitpunkt wohl auch bei guter Konstitution bereits schwer gezeichnet.

Waggon der deutschen Reichsbahn in Yad Vashem

Waggon der deutschen Reichsbahn, ausgestellt in Yad Vashem in Jerusalem; © Andrew Shiva / Wikipedia


"Da fuhr der Zug los. Ich weiß nicht, wie lange wir fuhren. Es war an der polnisch-sowjetischen Grenze, da blieb der Zug stehen, und sie haben uns aus den Personenwagen herausgejagt, und wir mussten in Güterwagen hinein. […] Da waren 70 oder 80 Menschen in einem Güterwagen. Wir mussten stehen. Ohne Wasser, ohne Essen. Die alten Leute haben am schlimmsten gelitten. Aber am schlimmsten war: Da gab es keine Toiletten. Das war das Allerschlimmste" (Hanuš Münz über die Deportation aus Theresienstadt nach Maly Trostinec)

Am 9. Juni 1942 verließ der Zug Koydanovo wieder und erreichte zwischen vier und sieben Uhr früh den Güterbahnhof in Minsk. Angehörige des Sicherheitsdienst Minsk kontrollierten die Deportierten und beaufsichtigten das Entladen der Fracht. Sie trieben die Juden zu einem nahe gelegenen Sammelplatz, wo eine andere Gruppe von Angehörigen des Sicherheitsdienstes ihnen ihre verbliebenen Wertgegenstände abnahm. Danach wurde eine Selektion durchgeführt, bei der meist 20 bis 50 junge Männer für die Zwangsarbeit im Konzentrationslager herausgesucht wurden. Die meisten dieser Zwangsarbeiter wurden Ende Juni 1944, nur wenige Tage vor dem Eintreffen der roten Armee, ermordet.

Schild vor dem Lager Maly Trostinec 1944

Die restlichen Juden des Transports wurden vom Güterbahnhof in Minsk auf LKWs zu vorher ausgehobenen Gruben in ein Kiefernwäldchen nach Blagovshchina in der Nähe von Maly Trostinec gebracht [etwas später, Mitte August 1942, wurde ein stillgelegter Gleisanschluss von Kolodisze kommend in Betrieb genommen, der fast unmittelbar an die Richtstätte führte] und bekamen das eigentliche Lager erst gar nicht zu Gesicht. Dort wurden die Delinquenten von Angehörigen der Waffen-SS und Schutzpolizei, die bereits auf sie gewartet hatten, ermordet, zumeist durch Erschießen. Die Angehörigen der Schutzpolizei rekrutierten sich in Weißrussland nicht, wie sonst üblich, aus Einheimischen, da Weißrussland unter den besetzten Gebieten den geringsten Anteil an Kollaborateuren und stattdessen den höchsten Anteil an Partisanentätigkeit aufwies. Daher stammten die meisten Mitglieder der Hilfskräfte aus der Ukraine, aus Lettland und aus Litauen.

Ein Teil der Deportierten, wahrscheinlich auch Etti, Herta und Rita, wurde in einen der in diesem Monat erstmals eingesetzten, getarnten Gaswagen geladen und auf dem Weg zu den Gruben mit Auspuffgasen erstickt. Dies lässt sich aus der eidesstattlichen Erklärung, des Kriegsverbrechers Otto Ohlendorf ableiten, der zu Protokoll gab, dass seine Einsatzgruppe im selben Zeitraum, jedoch an anderem Ort, ebenfalls Gaswagen zugeteilt bekam mit dem Befehl, diesen für Frauen und Kinder zum Einsatz zu bringen. [Dies, um die Psyche der Täter zu schonen. Den meist jungen Männern, die die Erschießungen ausführten, konnte man männliche Delinquenten, unterstützt durch die offensive NS-Propaganda, als Bedrohung verkaufen. Bei Frauen und Kindern hatten aber dann viele doch Skrupel. Daher die Methode mit den Gaswagen. Bereits im September 1942 wurde diese Tötungsart wieder aufgegeben, da die Reinigung der Wagen einen zu hohen Aufwand erforderte.]

Nur eine Woche später, am 15.06.1942, sollte Ettis Cousine Pepi-Engler Morawetz und ihrem Sohn Heinz an selber Stelle ebenfalls dieses Schicksal zuteil werden.


Mit dem Zurückweichen der deutschen Front nach der verlorenen Schlacht von Stalingrad ab Frühjahr 1943 und dem damit verbundenen Vorrücken der roten Armee wurde auf direkten Befehl Hitlers mir der Beseitigung der Spuren der Massenmorde in den besetzten Gebieten Osteuropas begonnen. Einerseits sollten die Beweise für die Verbrechen vertuscht werden, andererseits gab es mancherorts aber auch ganz profane Gründe für die Beseitigung, da die Verwesung derartiger Mengen an Leichen das Grundwasser zu kontaminieren drohte. Zu diesem Zweck bediente sich das eigens zu diesem Zweck von Heinrich Himmler abgestellte "Sonderkommando 1005" zuerst jüdischer, und nach deren Ermordung russischer Zwangsarbeiter, die nach den Exhumierungsarbeiten selbst als letzte Opfer ermordet und mit den anderen Leichen kremiert wurden. Das Lager Maly Trostinec kam Ende Oktober 1943 an die Reihe, hier wurde das Sonderkommando "1005 Mitte" (auch "Sonderkommando C") tätig, das in Maly Trostinec auch seinen Sitz hatte und für die "Enterdung" in Weißrussland zuständig war. Von 27.10.1943 bis 15.12.1943 wurden in dem Kiefernwäldchen in Blagovshchina 34 Massengräber geöffnet und rund 50.000 Leichen verbrannt und die Knochen zerkleinert. Danach wurden die Gruben eingeebnet. Zuordenbare körperliche Überreste der Opfer sind daher nicht vorhanden.

Die NICHT-Aufarbeitung dieser Verbrechen kann als beschämendes Musterbeispiel der österreichischen Nachkriegsjustiz betrachtet werden, die ja noch von Richtern und Beamten aus der NS-Zeit durchsetzt war und trotz vorhandener Unterlagen vollkommen bewusst nicht tätig wurde. So wurden Kuverts mit Unterlagen, die von den deutschen Ermittlungsbehörden an die österreichischen Kollegen übermittelt worden waren, nicht einmal geöffnet. Obwohl, wie an vielen anderen Orten, eine unverhältnismäßig hohe Zahl an österreichischen Verbrechern an den Greueln beteiligt war, erfolgte im Zusammenhang mit Maly Trostinec lediglich ein einziges österreichisches Verfahren gegen ein Mitglied des KdS Minsk, den Gaswagenfahrer Josef Wendl. Er wurde 1970 freigesprochen, weil ihm die Geschworenen bescheinigten, unter Befehlsnotstand gehandelt zu haben.

Der Österreichische Bundespräsident Alexander van der Bellen erinnerte in einer Rede 2015 anlässlich einer Gedenkveranstaltung in Blagovshchina: ..."Dass der Schreckensort Maly Trostinez und die Namen der Toten nicht endgültig dem Vergessen anheimfielen, sei letztlich aber nicht das Verdienst der Politik gewesen, sondern dem zivilgesellschaftlichen Engagement von Waltraud Barton und dem von ihr gegründeten Verein IM-MER zu verdanken."...


Etti Engler Singer-Günsberg 1928 animiert
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Etti Engler Singer-Günsberg 1939 animiert
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Ihr Name ist auf der Shoa Gedenkmauer in Wien eingraviert.
Namensmauern Wien Günsberg

Auch im Buch der Namen in Yad Vashem ist sie vermerkt, wenn auch die Angaben dort sehr fehlerhaft sind. Das Buch der Namen listet sämtliche 4,8 Millionen Einträge der namentlich bekannten Holocaust Opfer auf. Die restlichen rund 1,2 Millionen Namen konnten bislang nicht eruiert werden.