Mit großer Wahrscheinlichkeit lernten sich Setyk und Etti jedoch im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit in der Fleisch-Markthalle kennen. Setyk arbeitete dort ebenso wie der Czernowitzer Fleischer Berthold Eisinger, der bei Setyks und Ettis Hochzeit 1919 als Trauzeuge des jungen Paares fungierte und ab 1920 einen eigenen Stand in der Markthalle betrieb. Zudem stammte Ettis Famile ebenfalls aus Czernowitz und Etii kannte den Fleischer wohl bereits von dort.
Als Etti und Setyk Günsberg 1919 heirateten, war es in der Wohnung von Ettis Mutter Pessi Engler wohl zu eng. Die Platzverhältnisse in der Wohnung Nummer 5 im Erdgeschoss des Hauses Radetzkystraße 10, die kaum mehr als 20 m² maß und heute als Fahrradabstellraum dient, sind heute kaum vorstellbar, waren für die meist bettelarmen galizischen Immigranten aber wohl durchaus üblich. Zu diesem Zeitpunkt wohnten hier Etti, ihre Brüder und ihre Mutter und zusätzlich Ettis Cousine Fani Krumholz(Engler) mit ihrem kleinen Sohn Wilhelm, da die Wohnung ihrer eigenen Eltern Klara und Isaak Engler im selben Haus ebenfalls aus allen Nähten platzte. Das frisch getraute Ehepaar Setyk und Etti Günsberg zog an eine andere Adresse, vorerst (bis 02.06.1919) in die untere Viaduktgasse 33/8 im dritten Bezirk. Danach erfolgte für einige Monate (02.06.1919 – 03.02.1920) ein Umzug in die Radetzkystraße 17/II und dann in die Hetzgasse 43/9, wo ihr Sohn Max Günsberg am 15.03.1920 bei einer Hausgeburt zur Welt kam. Als wiederum Fani und Josef Krumholz ihr zweites Kind (Robert) erwarteten, suchten sie sich ebenfalls eine eigene Wohnung. Dadurch wurde bei Pessi wieder Platz, Etti und Setyk konnten mit dem kleinen Max wieder bei Ettis Mutter Pessi in der Radetzkystraße 10 einziehen.
Am 11.02.1925 kam in Wien im 10. Bezirk in der Knöllgasse 22-24 im Kaiserin Elisabeth-Wöchnerinnenheim Ettis und Setyks Tochter Herta zur Welt. Hier wurden bedürftige Ehefrauen – unabhängig von ihrer Religion – vor ihrer Niederkunft unentgeltlich aufgenommen und während des Wochenbetts verpflegt. Es dürfte auch kein Zufall sein, dass die Entbindung von Herta und dann auch fünf Jahre später ihrer Schwester Rita nicht als Hausgeburt mit einer Hebamme wie beim erstgeborenen Bruder Max Günsberg, sondern unter ärztlicher Aufsicht in Entbindungsanstalten erfolgte. Etti war für damalige Verhältnisse mit 35 bzw. 40 Jahren eine sehr späte Mutter.
Mit zwei kleinen Kindern wurde es offensichtlich in Pessis Wohnung erneut zu eng. Familie Günsberg bezog nunmehr am 13.08.1926 erstmals eine eigene Wohnung in Hauptmiete in 1030 Wien, Obere Weißgärberstraße 28/3. Ab diesem Zeitpunkt ist die Familie Setyk Günsberg auch im Wiener Adressbuch zu finden.
Exakt an ihrem 40. Geburtstag entband Etti am 14.07.1930 eine weitere Tochter namens Rita im 18. Bezirk, Wielemansgasse 28, in der Entbindungsanstalt der Angestellten der Wiener Kaufmannschaft.
Herta, Rita und Max Günsberg, um 1931
Am 18.05.1936 zog Etti mit ihrer Familie in eine neue Bleibe nicht weit von der alten, ebenfalls im dritten Bezirk, in der Löwengasse 2/6.
Nach dem Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland am 12.03.1938 wurde auch Familie Günsberg schnell klar, dass eine äußerst ungewisse Zukunft bevorstand. Das Geld wurde sehr schnell knapp, also versuchten Etti und Setyk durch Verkauf der Wohnungseinrichtung über die Runden zu kommen. Dann versuchten sie ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Sohn Max flüchtete am 15.08.1938 in die Schweiz, die minderjährigen Töchter sollten nach einem Erholungsurlaub im Sommer 1938 in der Schweiz bleiben, was aber nicht von Erfolg gekrönt war. Für sich selbst und seine Frau Etti sah Setyk offenbar nur geringe Gefahr. Er maß seinen militärischen Leistungen und seiner Verwundung Schutzwirkung als "verdienter Jude" zu. Das lässt sich in der NS-Diktion von sogenannten verdienten Juden durchaus nachvollziehen.
Zu dieser Zeit gab es noch regen Schriftwechsel zwischen Ettis Sohn Max Günsberg, der 1938 in die Schweiz emigriert war, und seiner Familie, wovon auch dieses Brief-Fragment aus dem Zeitraum 1939/40 zeugt, in dem Etti ihrem Maxi innige Grüße und Küsse sendete. Ebenfalls gegrüßt wurde er in diesem Schreiben von Ettis Mutter, also seiner Großmutter Pessi Engler-Singer, die zu dieser Zeit bereits im Altersheim in der Seegasse untergebracht war, sowie von Ettis Bruder und damit seinem Onkel David Singer, der nach wie vor mit seiner Familie in der winzigen Wohnung in der Radetzkystraße 10/5 lebte.
Neben unzähligen anderen Schikanen mussten Juden ab 01.01.1939 gemäß einer Namensänderungsverordnung einen Vornamen annehmen, der ihre jüdische Herkunft ersichtlich machte. So erklärt sich der Zusatzname Sara, den Etti ab diesem Zeitpunkt tragen musste.
Am 03.04.1940 starb Ettis Mutter Pessi im Alter von 80 Jahren im jüdischen Altersheim in der Seegasse in 1090 Wien.
Im Mai 1941 wurde Ettis 16-jährige Tochter Herta zur Zwangsarbeit in Nordhausen, Deutschland, abkommandiert. Zu diesem Zeitpunkt versuchte Etti die kleine Rita doch noch im Ausland in Sicherheit bringen zu können, indem sich Rita der Jugendalijah anschloss. Das war zu diesem Zeitpunkt aber bereits aussichtslos.
Am 28.05.1941 schrieb Etti ihrem Sohn "Maxi" Günsberg einen, möglicherweise sogar den letzten, Brief von "Mama Etie". In diesem Schreiben erwähnt sie abgesehen von innigen Grüßen unter anderem die Internierung seiner Schwester Herta in Tangermünde an der Elbe sowie die Bitte, für seinen knapp ein Jahr zuvor verstorbenen Vater Setyk am 9. August abends eine Kerze für die Jahrzeit ("...am 17.Aw, das ist der 10. August...") zu entzünden.
[Jahrzeit bezeichnet das Ende einer Trauerperiode, genau ein Jahr (nach jüdischem Kalender, also 354 Tage) nach dem Tod eines Angehörigen. Zu diesem Anlass wird eine Kerze angezündet, die 24 Stunden brennen soll]
Am 20.01 1942 wurde auf der sogenannten Wannseekonferenz die „Endlösung“ der Judenfrage in Form der Vernichtung von elf Millionen europäischen Juden besprochen und organisiert. Zu diesem Zweck wurden im Zuge der berüchtigten „Aktion Reinhardt“ die drei Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka eingerichtet und allein in diesen Lagern im Verlauf von knapp eineinhalb Jahren unfassbare 1,7 Millionen Menschen ermordet.
Das Lager Maly Trostinec etwa 12km südlich von Minsk in Weißrussland/Belarus war zwar kein Teil der industriellen Vernichtungsmaschinerie der "Aktion Reinhardt", trotzdem wurden dort mehr Wiener Juden und Jüdinnen als in den meisten anderen KZ getötet, lediglich in Auschwitz-Birkenau war die Anzahl der Getöteten aus Wien noch höher. Erst in den letzten Jahren in den Focus der Geschichtswissenschaft gerückt, zählt dieses Lager heutzutage mit sechs anderen Tötungsstätten zur Klasse der Vernichtungslager. Von den sechzehn Deportationszügen, die aus dem Westen des deutschen Reiches kommend zwischen November 1941 und Oktober 1942 Maly Trostinec als Ziel hatten, kamen neun aus Wien, jeweils mit rund tausend Personen besetzt. Insgesamt wurden in diesem Lager zwischen 40.000 und 150.000 Menschen ermordet, die meisten kamen aus dem Ghetto Minsk. Genauere Opferzahlen sind nicht feststellbar, da über die meisten Bewohner des Ghettos ebenso wie in den anderen besetzen osteuropäischen Gebieten keine Aufzeichnungen geführt wurden. In den aus Wien ankommenden neun Deportationszügen befanden sich rund 8.700 Menschen. Es sind lediglich 17 Überlebende aus dem Lager Maly Trostinec bekannt.
Die IKG erhielt etwa vierundzwanzig Stunden vor einer "Aushebung" von der "NS-Zentralstelle für jüdische Auswanderung" die Liste mit den Namen der zur Deportation vorgesehenen Personen und musste für deren Erscheinen an den Sammelstellen sorgen. Die meisten jüdischen Bewohner aus dem Haus am Franz-Josefs-Kai 5 außer Etti, Herta und Rita wurden bereits am 20.05.1942 nach Weißrussland verbracht. Die Familie Günsberg kam hingegen erst am 02.06.1942 an die Reihe und wurde "ausgehoben", wie der Eintrag "M.Tr." [Maly Trostinec] auf der Hausliste zeigt.
Nachdem die drei auf dem Schulgelände bzw. im Turnsaal in der Kleinen Sperlgasse 2a, einem der Sammellager, die in ehemaligen jüdischen Schulen eingerichtet worden waren, auf die berüchtigte „Kommissionierung“ zum Abtransport gewartet hatten und Etti einen Vermögensverzicht zugunsten des deutschen Reiches zu unterzeichnen hatte, wurden sie auf offenen LKWs unter den Schmähungen vieler Passanten über die Strecke Schwedenplatz-Ring-Ungargasse zum Bahnhof gebracht.
"Schau Dir an, die Juden. Naja, schleicht’s euch, san wir froh, dass wegfahrts" (Herbert Schrott, KZ-Überlebender aus Wien)
Zusammen mit etwa 1000 weiteren Juden erfolgte mit Transport Nr. 24, Zugnummer Da205 der deutschen Reichsbahn die Deportation vom damaligen Aspangbahnhof (Die Zugnummer Da... verweist auf eine dem gelben Stern auf der Kleidung entsprechende Kennzeichnung dieser Züge mit dem Kürzel für David). Am 4. Juni hielt der Zug in Wolkowysk im südwestlichen Weißrussland, wo sämtliche Passagiere von Personenwagen in Güterwaggons umgeladen wurden. Am 3. Juni hatte die Direktion der Reichsbahn Mitte mitgeteilt, dass mit Da gekennzeichnete Züge (die übliche Kennzeichnung von Judentransporten) einen Tag früher als geplant von Wolkowysk nach Koydanovo fahren würden. Deshalb fuhr der Zug bereits am Donnerstag, dem 4. Juni von Wolkowysk ab. In Koydanovo wurde der Zug wegen des Wochenendes über mehrere Tage unter Bewachung abgestellt. Es fällt schwer, sich die unbeschreiblichen Zustände in den geschlossenen und versiegelten Güterwaggons, die über mehrere Tage weder zur Notdurft noch aus anderem Grund verlassen werden durften, auszumalen. Regelmäßig erlebten einige Opfer aufgrund der Strapazen die Ankunft am Deportationsziel nicht mehr, die anderen waren zu diesem Zeitpunkt wohl auch bei guter Konstitution bereits schwer gezeichnet.
Waggon der deutschen Reichsbahn, ausgestellt in Yad Vashem in Jerusalem; © Andrew Shiva / Wikipedia
"Da fuhr der Zug los. Ich weiß nicht, wie lange wir fuhren. Es war an der polnisch-sowjetischen Grenze, da blieb der Zug stehen, und sie haben uns aus den Personenwagen herausgejagt, und wir mussten in Güterwagen hinein. […] Da waren 70 oder 80 Menschen in einem Güterwagen. Wir mussten stehen. Ohne Wasser, ohne Essen. Die alten Leute haben am schlimmsten gelitten. Aber am schlimmsten war: Da gab es keine Toiletten. Das war das Allerschlimmste" (Hanuš Münz über die Deportation aus Theresienstadt nach Maly Trostinec)
Am 9. Juni 1942 verließ der Zug Koydanovo wieder und erreichte zwischen vier und sieben Uhr früh den Güterbahnhof in Minsk. Angehörige des Sicherheitsdienst Minsk kontrollierten die Deportierten und beaufsichtigten das Entladen der Fracht. Sie trieben die Juden zu einem nahe gelegenen Sammelplatz, wo eine andere Gruppe von Angehörigen des Sicherheitsdienstes ihnen ihre verbliebenen Wertgegenstände abnahm. Danach wurde eine Selektion durchgeführt, bei der meist 20 bis 50 junge Männer für die Zwangsarbeit im Konzentrationslager herausgesucht wurden. Die meisten dieser Zwangsarbeiter wurden Ende Juni 1944, nur wenige Tage vor dem Eintreffen der roten Armee, ermordet.
Die restlichen Juden des Transports wurden vom Güterbahnhof in Minsk auf LKWs zu vorher ausgehobenen Gruben in ein Kiefernwäldchen nach Blagovshchina in der Nähe von Maly Trostinec gebracht [etwas später, Mitte August 1942, wurde ein stillgelegter Gleisanschluss von Kolodisze kommend in Betrieb genommen, der fast unmittelbar an die Richtstätte führte] und bekamen das eigentliche Lager erst gar nicht zu Gesicht. Dort wurden die Delinquenten von Angehörigen der Waffen-SS und Schutzpolizei, die bereits auf sie gewartet hatten, ermordet, zumeist durch Erschießen. Die Angehörigen der Schutzpolizei rekrutierten sich in Weißrussland nicht, wie sonst üblich, aus Einheimischen, da Weißrussland unter den besetzten Gebieten den geringsten Anteil an Kollaborateuren und stattdessen den höchsten Anteil an Partisanentätigkeit aufwies. Daher stammten die meisten Mitglieder der Hilfskräfte aus der Ukraine, aus Lettland und aus Litauen.
Ein Teil der Deportierten, wahrscheinlich auch Etti, Herta und Rita, wurde in einen der in diesem Monat erstmals eingesetzten, getarnten Gaswagen geladen und auf dem Weg zu den Gruben mit Auspuffgasen erstickt. Dies lässt sich aus der eidesstattlichen Erklärung, des Kriegsverbrechers Otto Ohlendorf ableiten, der zu Protokoll gab, dass seine Einsatzgruppe im selben Zeitraum, jedoch an anderem Ort, ebenfalls Gaswagen zugeteilt bekam mit dem Befehl, diesen für Frauen und Kinder zum Einsatz zu bringen. [Dies, um die Psyche der Täter zu schonen. Den meist jungen Männern, die die Erschießungen ausführten, konnte man männliche Delinquenten, unterstützt durch die offensive NS-Propaganda, als Bedrohung verkaufen. Bei Frauen und Kindern hatten aber dann viele doch Skrupel. Daher die Methode mit den Gaswagen. Bereits im September 1942 wurde diese Tötungsart wieder aufgegeben, da die Reinigung der Wagen einen zu hohen Aufwand erforderte.]
Nur eine Woche später, am 15.06.1942, sollte Ettis Cousine Pepi-Engler Morawetz und ihrem Sohn Heinz an selber Stelle ebenfalls dieses Schicksal zuteil werden.
Die NICHT-Aufarbeitung dieser Verbrechen kann als beschämendes Musterbeispiel der österreichischen Nachkriegsjustiz betrachtet werden, die ja noch von Richtern und Beamten aus der NS-Zeit durchsetzt war und trotz vorhandener Unterlagen vollkommen bewusst nicht tätig wurde. So wurden Kuverts mit Unterlagen, die von den deutschen Ermittlungsbehörden an die österreichischen Kollegen übermittelt worden waren, nicht einmal geöffnet. Obwohl, wie an vielen anderen Orten, eine unverhältnismäßig hohe Zahl an österreichischen Verbrechern an den Greueln beteiligt war, erfolgte im Zusammenhang mit Maly Trostinec lediglich ein einziges österreichisches Verfahren gegen ein Mitglied des KdS Minsk, den Gaswagenfahrer Josef Wendl. Er wurde 1970 freigesprochen, weil ihm die Geschworenen bescheinigten, unter Befehlsnotstand gehandelt zu haben.
Der Österreichische Bundespräsident Alexander van der Bellen erinnerte in einer Rede 2015 anlässlich einer Gedenkveranstaltung in Blagovshchina: ..."Dass der Schreckensort Maly Trostinez und die Namen der Toten nicht endgültig dem Vergessen anheimfielen, sei letztlich aber nicht das Verdienst der Politik gewesen, sondern dem zivilgesellschaftlichen Engagement von Waltraud Barton und dem von ihr gegründeten Verein IM-MER zu verdanken."...
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Etti Engler Singer-Günsberg 1939 animiert
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Auch im Buch der Namen in Yad Vashem ist sie vermerkt, wenn auch die Angaben dort sehr fehlerhaft sind. Das Buch der Namen listet sämtliche 4,8 Millionen Einträge der namentlich bekannten Holocaust Opfer auf. Die restlichen rund 1,2 Millionen Namen konnten bislang nicht eruiert werden.