Erlebnisse

Wenn einer seine Ahnen sucht, so kann er was erzählen

Das etwas holprig abgeleitete Sprichwort "Wenn einer eine Reise tut..." ist gar nicht so weit hergeholt. Die Ahnenforschung ist tatsächlich eine Reise, die in ferne Länder oder längst vergangene Zeiten führt und dem Reisenden eindrückliche Erlebnisse beschert. Vor allem die Bekanntschaft und die Gespräche mit wiederentdeckten Mitgliedern oder Freunden der Familie ist für mich, den begeisterten Hobby-Genealogen Gerhard Günsberg, das sprichwörtliche Salz in der Suppe.

Nachfolgend einige der zahlreichen interessanten Begebenheiten, die mir im Laufe der Suche widerfahren sind. Manchmal sind sie zum Nachdenken geeignet, oft auch erheiternd.


Der beste Freund meines Vaters

Eines der sehr wenigen Schriftstücke aus meines Vaters Max Günsberg Hinterlassenschaft war ein Brief aus Wien von Max´ Schwester Herta Günsberg an Max vom 14. November 1938. Er war einige Wochen zuvor im August in die Schweiz geflohen und nur einige Tage vor dem Schreiben ließ die berüchtigte Reichs-Pogromnacht (09.11.1938) bereits das Schlimmste befürchten. Max´Familie versuchte deshalb alle seine Spuren vorsorglich zu verwischen und entsorgte seine Unterlagen um keinen Hinweis auf seinen Aufenthaltsort zu hinterlassen. In diesem Brief lässt ihn  seine Schwester von diesen Bemühungen wissen und beiläufig ist auch von einem "Isi Street", später von "Isi Streit", die Rede. Ursprünglich maß ich dieser Erwähnung wenig Bedeutung zu und interpretierte sie eher als vereinbartes Codewort, um einer eventuellen Briefzensur zu entgehen. Nach einigen Monaten suchte ich jedoch, auch um diesbezüglich sicherzugehen, auf den diversen Online-Ahnenforschungsplattformen nach dem Namen Isi Streit. Als ich die wahrscheinliche Langform von Isi - "Isidor" suchte, stieß ich auf eine einzige Erwähnung dieses Namens in einem Familienstammbaum auf einer solchen Plattform. Also kontaktierte ich die Verwalterin dieses Stammbaumes, erhielt jedoch nie eine Antwort.

Routinemäßig beschäftigte ich mich etwa ein Jahr später erneut mit diesem Namen. Und ich versuchte aus dem Usernamen der Stammbaum-Verwalterin auf deren richtigen Namen zu schließen. Diesen suchte ich dann im Internet. Und auf Facebook gab es tatsächlich eine Nutzerin mit diesem Namen, die in Sydney ansässig ist. Eine Anfrage über den FB Messenger wurde zu meinem Erstaunen innerhalb weniger Minuten beantwortet.

Isidor/Leon Streit

Isidor/Leon Streit

Siehe da - Isi/Isidor Streit war ihr Onkel und der allerbeste Freund von Max Günsberg in dessen Kinder- und Jugendtagen. In den diversen Internet-Quellen zu finden war er jedoch nicht, da er seinen Vornamen auf Leon geändert hatte und bereits 2007 verstorben war. Zu meiner Überraschung erfuhr ich jedoch, dass sein fünf Jahre jüngerer Bruder Alfred, also ihr Vater, nunmehr 97-jährig nach wie vor "sharp as a tack" ist und er meinen Vater Max Günsberg in dessen Jugend vor der Emigration 1938 gut gekannt hatte. Die Familie Streit selbst war 1938 zunächst nach Südafrika, später in die USA, nach Israel und nach Australien ausgewandert.

Der Kontakt via Whatsapp-Video mit dem in Sydney wohnhaften Alfred Streit/Fred Street im Jahr 2022 war für mich (Gerhard Günsberg) ein absoluter Haupttreffer, da weder mein Bruder Sandro noch meine Mutter oder ich jemals, also seit vielen Jahrzehnten, jemandem kennenlernen durften, der Max Günsberg in seiner Kindheit und Jugend persönlich kannte. Und so viele Jahre nach meines Vaters Max Tod 1976 hätte ich nicht im Entferntesten mehr damit gerechnet.

Am 26.08.2024 verstarb Fred Street 99-jährig. Das Foto wurde nur wenige Tage zuvor aufgenommen.


Lasset uns Österreicher machen

Das österreichische Parlament beschloss im Oktober 2019 in Wahrnehmung der historischen Verantwortung gegenüber den Verfolgten des Nationalsozialismus und ihren Nachkommen einstimmig eine Novelle zum österreichischen Staatsbürgerschaftsgesetz (StbG). Seither ist es für die Nachkommen österreichischer Holocaust-Opfer möglich, zusätzlich zu ihrer bestehenden eine österreichische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Freilich muss die Nachkommenschaft mit entsprechenden Dokumenten nachgewiesen werden.

Teilweise konnte ich mit Dokumenten aushelfen, manchmal auch die Idee und sogar den entscheidenen Anstoss beitragen. Jedenfalls bin ich bislang für zumindest sechs neue Österreicher zumindest mitverantwortlich  


Meine Urgroßtante Paula, die Tennismeisterin

Die Schwester meiner Urgroßmutter Reisie Fanger-Günsberg hieß Paula Fanger-Schenke. Beim Aufspüren ihrer Nachkommen (bei aller berechtigten Skepsis Facebook gegenüber - aber dafür leistet es gute Dienste) stieß ich in den USA auf Familie Menachof, die, als ich sie kontaktierte, eine Medaille erwähnte, die nach wie vor und auch heute noch die Wand von Paula Fangers Urenkelin Paula-Lee Menachof schmückt. Die nachfolgenden Recherchen brachten zutage, dass Paula Fanger im Jahr 1895 und 1896 tatsächlich österreichische Meisterin im Mixed Doppel in der Sportart "Lawn-Tennis" geworden war.

Wenn auch missliebige Stimmen fallweise Anderes erzählen - der Sport ist uns von unseren Vorfahren also eindeutig bereits in die Wiege gelegt!

P.S.: Nicht nur den Sport, auch musikalisches Talent haben wir mitbekommen:

  • Eine Kostprobe der großartigen Roz Menachof (eine Ur-Urenkelin von Paula Fanger) beweist dies: https://youtu.be/iwuA-wuaEZg
  • Eine Cousine von Max Günsberg namens Basia, die Tochter seines Onkels Rafael Günsberg, war angeblich eine berühmte Pianistin.


Wer hat schon einen Klimt im Haus?

Als mein Vater Max Günsberg im Jahr 1974 die Liegenschaft im 23. Bezirk in Wien erwarb, die nach wie vor Familiensitz ist, hatte er ganz sicher keine Ahnung von dem prominenten Kunstwerk, das offenbar jahrzehntelang hier zu bewundern war: eines der berühmtesten Werke von Gustav Klimt, "Landhaus am Attersee", gelangte im Zuge des in der NS-Zeit staatlich legitimierten Raubes im Jahr 1940 von der rechtmäßigen jüdischen Eigentümerin Jenny Steiner in den Besitz der damaligen Hausherrin in der Anton-Kriegergasse 142, Emma Danzinger. Im Jahr 1963 überließ sie das Bild der österreichischen Galerie Belvedere als Dauerleihgabe und vererbte es dieser als Legat für den Fall ihres Todes, der 1993 eintrat und damit das Gemälde in den Besitz der Galerie überging. In einem spektakulären Verfahren wurde das  Bild 2001 den Erben der Jenny Steiner restituiert und erzielte in der Folge bei einer Auktion bei Sotheby´s in New York im Jahr 2003 den damaligen Rekorderlös von über 29 Millionen Dollar. Entsprechend der Entwicklungen auf dem Kunstmarkt würde dafür aktuell (2024) ein dreistelliger Millionenbetrag erlöst.

Heutzutage ist das Bild erneut als Dauerleihgabe im Belevedere ausgestellt. Aber von 1940 bis 1963 zierte es wohl das Wohnzimmer unseres Hauses.

Landhaus am Attersee, 1914

Mahnmal Aspang Bahnhof

Mahnmal Aspangbahnhof

Bei der Auseinandersetzung mit den Wiener Opfern der Shoah stößt man unweigerlich auf den Namen des Aspangbahnhofes, von dem aus ein großer Teil dieser etwa 65.000 Menschen deportiert wurde.

Neben weiter entfernten Mitgliedern unserer Familie fuhren von hier aus auch unmittelbare Verwandte, meine Großmutter Etti, meine Tanten Herta und Rita, sowie mein Großonkel David, seine Frau Malka und deren beiden Söhne Josef Max und Leo in den Tod.

Das unscheinbare, dafür umso eindrücklichere Kunstwerk im Wiener Leon-Zelman-Park auf dem Gelände des ehemaligen Bahnhofs, das einen in die Dunkelheit weisenden Schienenstrang symbolisiert, hat mein Innerstes berührt und einen unschätzbaren Beitrag zur Trauerarbeit um meine verstorbenen, bis dahin aber nicht "greifbaren" Familienangehörigen, vor allem meine Großmutter und meine Tanten, geleistet.

 


Wie der Zufall so spielt - so fand ich meine Ur-Urgroßeltern

Die Suche nach meinen Vorfahren in deren Herkunftsort Zurawno in Galizien gestaltet sich ausgesprochen schwierig bis unmöglich. Für viele galizische Regionen und Orte gibt es durchaus umfangreiches Archivmaterial über das neunzehnte Jahrhundert, aber ausgerechnet aus Zurawno hat so gut wie nichts überdauert. Nur ein einziges Buch über die jüdischen Geburten der Jahre 1877-1884 hat die Zeiten überstanden. Weder sind Geburtsunterlagen aus anderen Perioden vorhanden, noch gibt es über Heiraten, Todesfälle und Zivilrechtliches (Volkszählungen, Hausstandslisten etc.) irgendwelche Aufzeichnungen. All dies wurde im unruhigen 20. Jahrhundert leider vernichtet.

Umso überraschender war ein Zufallsfund im Wiener Stadt/Landesarchiv. Bei der Recherche nach meinem in Wien verstorbenen Urgroßonkel namens Abraham Fanger war in dessen Nachlass seine Schwester, meine Urgroßmutter Reisie/Rosa Fanger-Günsberg, als Erbberechtigte genannt. Ihre Berechtigung musste sie offenbar mit Dokumenten nachweisen. Daher fiel mir beim Durchblättern der Verlassenschaftsabhandlung von Abraham Fanger plötzlich eine amtlich ins Deutsche übersetzte, mit wunderschönen Stempelmarken und einem Amtssiegel versehene, Original-Abschrift aus dem Heiratsmatrikelbuch aus Zurawno betreffend die Heirat meiner Urgroßmutter Reisie Fanger und meines Urgroßvaters Jona Günsberg im Jahre 1878 in die Hände. Und da waren die jeweiligen Eltern, also auch meine bis dahin mir gänzlich unbekannten Ur-Urgroßeltern Boruch und Schifry Günsberg fein säuberlich angeführt. Heureka!


Erich Günsberg und sein eisernes Schweigen

Ende 2021 bekam Tracy Austin, die in London 1972 geboren wurde und nach wie vor dort ansässig ist, eine der zahlreichen Werbe-E-mails einer Ahnenforschungsplattform, die das Erforschen der eigenen Herkunft mittels DNA-Analyse anbot. Da ihr Vater bereits 2004 verstorben war und sie über ihre väterlichen Vorfahren kaum etwas wusste, nahm sie dieses Angebot an.

Sehr zu ihrer Überraschung ergab dieser DNA-Test einen erheblichen Anteil aschkenasischen, also jüdischen, Erbgutes. Darauf konnte sie sich beim besten Willen keinen Reim machen. Ihr Vater hatte lediglich erzählt, aus Toronto, Kanada, zu stammen, und dass seine Mutter gestorben sei, als er 18 Jahre alt war. Ansonsten verlor er über sein früheres Leben bis an sein Lebensende kein Wort. Und er besaß eine seltsame Eigenheit - er mied Kirchen buchstäblich wie der Teufel das Weihwasser. So musste Tracy, obwohl sie ein sehr inniges Verhältnis zu ihrem Vater pflegte, von ihrem Bruder zum Traualtar geführt werden, da ihr Vater partout keine Kirche betreten wollte.

Einige Zeit nach dem seltsamen DNA-Test engagierte sie deshalb in London einen Detektiv, der die Herkunft ihres Vaters durchleuchten sollte. Nach drei Wochen musste dieser Detektiv die Suche jedoch ergebnislos abbrechen, da keine Aufzeichungen zu finden seien.

Einige Wochen später erzählte Tracy ihrer Stiefmutter (ihr Vater hatte sich von Tracys Mutter scheiden lassen und noch einmal geheiratet), mit der sie sich gut versteht, von ihren Bemühungen samt DNA-Test. Die Stiefmutter, eine Ärztin im Ruhestand, erinnerte sich dabei an eine seltsame E-mail, die ihr früherer Arbeitgeber etwa ein halbes Jahr zuvor an sie weitergeleitet hatte, sie dieser E-mail jedoch keinerlei Bedeutung beigemessen und sie gelöscht hatte. In dieser E-mail, die sie dann doch wieder finden konnte und die aus Wien stammte, behauptete jemand, in irgendeiner Weise mit ihr bzw. ihrem verstorbenen Mann verwandt zu sein. Wenn die Stieftochter dies wünsche, könne sie ja den Verfasser dieser E-mail namens Gerhard Günsberg einmal fragen.

Und so bekam ich kurz darauf eine etwas unwirsche Anfrage, was ich denn mit meiner Aussage in der E-mail gemeint haben könnte. Das legte ich in meiner Antwort gerne dar - mein Urgroßvater Jona Günsberg und Tracys Urgroßvater Aron Günsberg waren Brüder und Tracys Vater Erich der Enkel von Aron Günsberg und ein Holocaust-Überlebender aus Wien, der nach England geflüchtet war und in der Folge seinen Namen in "Eric Garfield" geändert hatte. Daraufhin herrschte einige Tage Funkstille. Danach erhielt ich eine fast schon entrüstete E-mail des Inhaltes, mit welcher Berechtigung ich derart abstruse Behauptungen aufstellen könne. Also übermittelte ich die entsprechenden Dokumente. Die folgenden Tage ohne Rückmeldung ließen das ungläubige Staunen über tausende Kilometer hinweg fast körperlich spüren.

Mittlerweile ist die Entrüstung einer Dankbarkeit gewichen und ich hatte sehr nette Telefongespräche mit den Londoner "Verwandten". Eine weitere Tochter von Erich Günsberg aka Eric Garfield, die sehr auf ihre Privatsphäre bedacht ist und praktisch keinerlei digitale Spuren hinterlässt, ließ mir nach der Lektüre dieser Homepage sogar weiterführende Infos über ihren schweigsamen Vater Erich zukommen, da sie es richtig findet, dass die Lebensgeschichten der Holocaust-Opfer erzählt und weitergegeben werden. Die ganze Story ist bei Baruch Günsberg nachzulesen.