Zu diesem Zeitpunkt wohnte die Familie Günsberg noch bei Ettis Mutter Pessi in der Radetzkystraße 10/5. Mit der Geburt des zweiten Kindes wurde es aber wohl zu eng. Die Platzverhältnisse in der Wohnung Nummer 5 im Erdgeschoss des Hauses Radetzkystraße 10, die kaum mehr als 20 m² maß und heute als Fahrradabstellraum dient, sind heute kaum vorstellbar, waren für die meist bettelarmen galizischen Immigranten aber wohl durchaus üblich. Daher erfolgte am 13.08.1926 der Umzug in eine andere Wohnung, ebenfalls im dritten Bezirk, in der Oberen Weißgerberstraße 28, Tür 3. Seit dem Umzug in die Weißgerberstraße 1926 scheint die Familie Setyk Günsberg auch im Wiener Adressbuch auf, dies dürfte demnach die erste Wohnung der Familie gewesen sein, die in Hauptmiete bewohnt wurde.
Setyk, Max, Herta und Etti Günsberg, ca. 1928
Herta, Rita und Max Günsberg, ca. 1931
Bekleidungsvorschriften des Betar
Kundgebung des Betar 1932
"Die Abreise der Wienerkinder erfolgt am 18.September. Bereits hat uns die eidgenössische Fremdenpolizei mitgeteilt, dass der Sammelpass bis dahin abgelaufen sei. Wir mussten uns bei der Einreise der Kinder verpflichten, dass die Kinder alle wieder in ihre Heimat zurückkehren würden. So können wir auch all den Bittgesuchen um Verlängerung des Aufenthalts – noch um ein Verbleiben in der Schweiz entsprechen – und müssen alle diese Anfragen strikt verneinen." (ETH Zürich, Archiv für Zeitgeschichte, Israelitischer Frauenverein Zürich, gegr. 1878, Archiv (1886-2003), IB IFZ-Archiv)
Kurz nach den Novemberpogromen (10.11.1938) schrieb Herta am 14.11.1938 an ihren Bruder Max Günsberg in der Schweiz einen Brief und sandte ihm darin auch die Adresse seines von Kindesbeinen an besten Freundes Isi Streit, der mit seiner Familie nach Südafrika ausgewandert war. In diesem Brief berichtete sie von der Vernichtung all seiner sonstigen Unterlagen, da man nach den Pogromen nunmehr offenbar weitere Repressionen befürchtete und wohl seine Spuren in Wien verwischen wollte.
Neben unzähligen anderen Schikanen mussten Juden ab 01.01.1939 gemäß einer Namensänderungsverordnung einen Vornamen annehmen, der ihre jüdische Herkunft ersichtlich machte. So erklärt sich der Zusatzname Sara, den Herta ab diesem Zeitpunkt tragen musste.
Herta, Setyk, Etti und Rita Günsberg, 1939
Am 21.08.1940 starb Hertas Vater Setyk Günsberg. Der Tod des Vaters muss für die Familie nicht nur im familiären Sinn eine Katastrophe gewesen sein. Setyk hatte durchaus zu Recht seinen Verdiensten im ersten Weltkrieg eine gewisse Schutzfunktion zugeschrieben, das lässt sich in der NS-Diktion von sogenannten verdienten Juden durchaus nachvollziehen. Nur deshalb hatten die Günsbergs bis zu Setyks Tod 1940 immer noch ihre Wohnung in der Löwengasse, während aus den ehemals 70.000 in Wien von Juden bewohnten Mietwohnungen bis 1939 fast alle vertrieben worden waren. Durch sein Ableben war dieser Schutz dahin. Zudem wurde kurz danach, am 10.09.1940, der theoretische Mieterschutz für Juden und Jüdinnen gänzlich aufgehoben. Folgerichtig mussten Etti und ihre beiden Mädchen die Wohnung am 15.10.1940 räumen und wohnten dann im ersten Bezirk am Franz-Josefs-Kai 5/12a in einer Sammelwohnung mit zumindest sechzehn weiteren, fremden Personen.
Auf einer Hausliste aus dem Jahr 1941 scheint neben Hertas Name die Eintragung Nordhausen auf. Bevor dort ab 1943 das berüchtigte KZ Mittelbau-Dora eingerichtet und die „Vergeltungswaffe“ V2 hergestellt wurde, wurden hier ZwangsarbeiterInnen beschäftigt:Die sechzehnjährige Herta schrieb an Max am 19.06.1941 aus Tangermünde an der Elbe eine Postkarte von der Spargelernte, sie käme wahrscheinlich am 01.07.1941 wieder nach Wien.
Am 20.01 1942 wurde auf der sogenannten Wannseekonferenz die „Endlösung“ der Judenfrage in Form der Vernichtung von elf Millionen europäischen Juden besprochen und organisiert. Zu diesem Zweck wurden im Zuge der berüchtigten „Aktion Reinhardt“ die drei Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka eingerichtet und allein in diesen Lagern im Verlauf von knapp eineinhalb Jahren unfassbare 1,7 Millionen Menschen ermordet.
Das Lager Maly Trostinec etwa 12km südlich von Minsk in Weißrussland/Belarus war zwar kein Teil der industriellen Vernichtungsmaschinerie der "Aktion Reinhardt", trotzdem wurden dort mehr Wiener Juden und Jüdinnen als in den meisten anderen KZ getötet, lediglich in Auschwitz-Birkenau war die Anzahl der Getöteten aus Wien noch höher. Erst in den letzten Jahren in den Focus der Geschichtswissenschaft gerückt, zählt dieses Lager heutzutage mit sechs anderen Tötungsstätten zur Klasse der Vernichtungslager. Von den sechzehn Deportationszügen, die aus dem Westen des deutschen Reiches kommend zwischen November 1941 und Oktober 1942 Maly Trostinec als Ziel hatten, kamen neun aus Wien, jeweils mit rund tausend Personen besetzt. Insgesamt wurden in diesem Lager zwischen 40.000 und 150.000 Menschen ermordet, die meisten kamen aus dem Ghetto Minsk. Genauere Opferzahlen sind nicht feststellbar, da über die meisten Bewohner des Ghettos ebenso wie in den anderen besetzen osteuropäischen Gebieten keine Aufzeichnungen geführt wurden. In den aus Wien ankommenden neun Deportationszügen befanden sich rund 8.700 Menschen. Es sind lediglich 17 Überlebende aus dem Lager Maly Trostinec bekannt.
Die IKG erhielt etwa vierundzwanzig Stunden vor einer "Aushebung“ von der "NS-Zentralstelle für jüdische Auswanderung" die Liste mit den Namen der zur Deportation vorgesehenen Personen und musste für deren Erscheinen an den Sammelstellen sorgen. Die meisten jüdischen Bewohner aus dem Haus am Franz-Josefs-Kai 5 außer Etti, Herta und Rita wurden bereits am 20.05.1942 nach Weißrussland verbracht. Die Familie Günsberg kam hingegen erst am 02.06.1942 an die Reihe und wurde "ausgehoben", wie der Eintrag "M.Tr." [Maly Trostinec] auf der Hausliste zeigt.
Nachdem die drei auf dem Schulgelände bzw. im Turnsaal in der Kleinen Sperlgasse 2a, einem der Sammellager, die in ehemaligen jüdischen Schulen eingerichtet worden waren, auf die berüchtigte „Kommissionierung“ zum Abtransport gewartet hatten und Etti einen Vermögensverzicht zugunsten des deutschen Reiches zu unterzeichnen hatte, wurden sie auf offenen LKWs unter den Schmähungen vieler Passanten über die Strecke Schwedenplatz-Ring-Ungargasse zum Bahnhof gebracht.
"Schau Dir an, die Juden. Naja, schleicht’s euch, san wir froh, dass wegfahrts" (Herbert Schrott, KZ-Überlebender aus Wien)
Zusammen mit etwa 1000 weiteren Juden erfolgte mit Transport Nr. 24, Zugnummer Da205 der deutschen Reichsbahn die Deportation vom damaligen Aspangbahnhof (Die Zugnummer Da... verweist auf eine dem gelben Stern auf der Kleidung entsprechende Kennzeichnung dieser Züge mit dem Kürzel für David). Am 4. Juni hielt der Zug in Wolkowysk im südwestlichen Weißrussland, wo sämtliche Passagiere von Personenwagen in Güterwaggons umgeladen wurden. Am 3. Juni hatte die Direktion der Reichsbahn Mitte mitgeteilt, dass mit Da gekennzeichnete Züge (die übliche Kennzeichnung von Judentransporten) einen Tag früher als geplant von Wolkowysk nach Koydanovo fahren würden. Deshalb fuhr der Zug bereits am Donnerstag, dem 4. Juni von Wolkowysk ab. In Koydanovo wurde der Zug wegen des Wochenendes über mehrere Tage unter Bewachung abgestellt. Es fällt schwer, sich die unbeschreiblichen Zustände in den geschlossenen und versiegelten Güterwaggons, die über mehrere Tage weder zur Notdurft noch aus anderem Grund verlassen werden durften, auszumalen. Regelmäßig erlebten einige Opfer aufgrund der Strapazen die Ankunft am Deportationsziel nicht mehr, die anderen waren zu diesem Zeitpunkt wohl auch bei guter Konstitution bereits schwer gezeichnet.
Waggon der deutschen Reichsbahn, ausgestellt in Yad Vashem in Jerusalem; © Andrew Shiva / Wikipedia
"Da fuhr der Zug los. Ich weiß nicht, wie lange wir fuhren. Es war an der polnisch-sowjetischen Grenze, da blieb der Zug stehen, und sie haben uns aus den Personenwagen herausgejagt, und wir mussten in Güterwagen hinein. […] Da waren 70 oder 80 Menschen in einem Güterwagen. Wir mussten stehen. Ohne Wasser, ohne Essen. Die alten Leute haben am schlimmsten gelitten. Aber am schlimmsten war: Da gab es keine Toiletten. Das war das Allerschlimmste" (Hanuš Münz über die Deportation aus Theresienstadt nach Maly Trostinec)
Am 9. Juni 1942 verließ der Zug Koydanovo wieder und erreichte zwischen vier und sieben Uhr früh den Güterbahnhof in Minsk. Angehörige des Sicherheitsdienst Minsk kontrollierten die Deportierten und beaufsichtigten das Entladen der Fracht. Sie trieben die Juden zu einem nahe gelegenen Sammelplatz, wo eine andere Gruppe von Angehörigen des Sicherheitsdienstes ihnen ihre verbliebenen Wertgegenstände abnahm. Danach wurde eine Selektion durchgeführt, bei der meist 20 bis 50 junge Männer für die Zwangsarbeit im Konzentrationslager herausgesucht wurden. Die meisten dieser Zwangsarbeiter wurden Ende Juni 1944, nur wenige Tage vor dem Eintreffen der roten Armee, ermordet.
Die restlichen Juden des Transports wurden vom Güterbahnhof in Minsk auf LKWs zu vorher ausgehobenen Gruben in ein Kiefernwäldchen nach Blagovshchina in der Nähe von Maly Trostinec gebracht [etwas später, Mitte August 1942, wurde ein stillgelegter Gleisanschluss von Kolodisze kommend in Betrieb genommen, der fast unmittelbar an die Richtstätte führte] und bekamen das eigentliche Lager erst gar nicht zu Gesicht. Dort wurden die Delinquenten von Angehörigen der Waffen-SS und Schutzpolizei, die bereits auf sie gewartet hatten, ermordet, zumeist durch Erschießen. Die Angehörigen der Schutzpolizei rekrutierten sich in Weißrussland nicht, wie sonst üblich, aus Einheimischen, da Weißrussland unter den besetzten Gebieten den geringsten Anteil an Kollaborateuren und stattdessen den höchsten Anteil an Partisanentätigkeit aufwies. Daher stammten die meisten Mitglieder der Hilfskräfte aus der Ukraine, aus Lettland und aus Litauen.
Ein Teil der Deportierten, wahrscheinlich auch Etti, Herta und Rita, wurde in einen der in diesem Monat erstmals eingesetzten, getarnten Gaswagen geladen und auf dem Weg zu den Gruben mit Auspuffgasen erstickt. Dies lässt sich aus der eidesstattlichen Erklärung, des Kriegsverbrechers Otto Ohlendorf ableiten, der zu Protokoll gab, dass seine Einsatzgruppe im selben Zeitraum, jedoch an anderem Ort, ebenfalls Gaswagen zugeteilt bekam mit dem Befehl, diesen für Frauen und Kinder zum Einsatz zu bringen. [Dies, um die Psyche der Täter zu schonen. Den meist jungen Männern, die die Erschießungen ausführten, konnte man männliche Delinquenten, unterstützt durch die offensive NS-Propaganda, als Bedrohung verkaufen. Bei Frauen und Kindern hatten aber dann viele doch Skrupel. Daher die Methode mit den Gaswagen. Bereits im September 1942 wurde diese Tötungsart wieder aufgegeben, da die Reinigung der Wagen einen zu hohen Aufwand erforderte.]
Nur eine Woche später, am 15.06.1942, sollte der Cousine ihrer Mutter Etti, Pepi-Engler Morawetz, und ihrem Sohn Heinz an selber Stelle ebenfalls dieses Schicksal zuteil werden.
Mit dem Zurückweichen der deutschen Front nach der verlorenen Schlacht von Stalingrad ab Frühjahr 1943 und dem damit verbundenen Vorrücken der roten Armee wurde auf direkten Befehl Hitlers mir der Beseitigung der Spuren der Massenmorde in den besetzten Gebieten Osteuropas begonnen. Einerseits sollten die Beweise für die Verbrechen vertuscht werden, andererseits gab es mancherorts aber auch ganz profane Gründe für die Beseitigung, da die Verwesung derartiger Mengen an Leichen das Grundwasser zu kontaminieren drohte. Zu diesem Zweck bediente sich das eigens zu diesem Zweck von Heinrich Himmler abgestellte "Sonderkommando 1005" zuerst jüdischer, und nach deren Ermordung russischer Zwangsarbeiter, die nach den Exhumierungsarbeiten selbst als letzte Opfer ermordet und mit den anderen Leichen kremiert wurden. Das Lager Maly Trostinec kam Ende Oktober 1943 an die Reihe, hier wurde das Sonderkommando "1005 Mitte" (auch "Sonderkommando C") tätig, das in Maly Trostinec auch seinen Sitz hatte und für die "Enterdung" in Weißrussland zuständig war. Von 27.10.1943 bis 15.12.1943 wurden in dem Kiefernwäldchen in Blagovshchina 34 Massengräber geöffnet und rund 50.000 Leichen verbrannt und die Knochen zerkleinert. Danach wurden die Gruben eingeebnet. Zuordenbare körperliche Überreste der Opfer sind daher nicht vorhanden.
Die NICHT-Aufarbeitung dieser Verbrechen kann als beschämendes Musterbeispiel der österreichischen Nachkriegsjustiz betrachtet werden, die ja noch von Richtern und Beamten aus der NS-Zeit durchsetzt war und trotz vorhandener Unterlagen vollkommen bewusst nicht tätig wurde. So wurden Kuverts mit Unterlagen, die von den deutschen Ermittlungsbehörden an die österreichischen Kollegen übermittelt worden waren, nicht einmal geöffnet. Obwohl, wie an vielen anderen Orten, eine unverhältnismäßig hohe Zahl an österreichischen Verbrechern an den Greueln beteiligt war, erfolgte im Zusammenhang mit Maly Trostinec lediglich ein einziges österreichisches Verfahren gegen ein Mitglied des KdS Minsk, den Gaswagenfahrer Josef Wendl. Er wurde 1970 freigesprochen, weil ihm die Geschworenen bescheinigten, unter Befehlsnotstand gehandelt zu haben.
Der Österreichische Bundespräsident Alexander van der Bellen erinnerte in einer Rede 2015 anlässlich einer Gedenkveranstaltung in Blagovshchina: ..."Dass der Schreckensort Maly Trostinez und die Namen der Toten nicht endgültig dem Vergessen anheimfielen, sei letztlich aber nicht das Verdienst der Politik gewesen, sondern dem zivilgesellschaftlichen Engagement von Waltraud Barton und dem von ihr gegründeten Verein IM-MER zu verdanken."...
Ihr Name ist auf der Shoa Gedenkmauer in Wien eingraviert.
Auch im Buch der Namen in Yad Vashem ist sie vermerkt, wenn auch die Angaben dort sehr fehlerhaft sind. Das Buch der Namen listet sämtliche 4,8 Millionen Einträge der namentlich bekannten Holocaust Opfer auf. Die restlichen rund 1,2 Millionen Namen konnten bislang nicht eruiert werden.