Rita Günsberg kam am 14.07.1930, genau am 40.Geburtstag ihrer Mutter Etti Günsberg, in Wien im 18. Bezirk, Wielemansgasse 28, in der Entbindungsanstalt der Angestellten der Wiener Kaufmannschaft als Tochter von Setyk und Etti Günsberg zur Welt. Es dürfte kein Zufall sein, dass die Entbindung von Rita, wie auch schon die ihrer Schwester Herta fünf Jahre zuvor, nicht als Hausgeburt mit einer Hebamme wie beim erstgeborenen Bruder Max Günsberg, sondern unter ärztlicher Aufsicht in Entbindungsanstalten erfolgte. Etti war für damalige Verhältnisse mit 35 bzw. 40 Jahren eine sehr späte Mutter.
Rita wohnte mit ihrer Familie zu diesem Zeitpunkt im dritten Bezirk, in der Oberen Weißgerberstraße 28, Tür 3.
Herta, Rita und Max Günsberg, ca. 1931
Am 28.09.1941 schrieb Rita ihrem großen Bruder Max noch eine Grußkarte, angefertigt natürlich von einer "arischen Firma":
Am 20.01 1942 wurde auf der sogenannten Wannseekonferenz die „Endlösung“ der Judenfrage in Form der Vernichtung von elf Millionen europäischen Juden besprochen und organisiert. Zu diesem Zweck wurden im Zuge der berüchtigten „Aktion Reinhardt“ die drei Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka eingerichtet und allein in diesen Lagern im Verlauf von knapp eineinhalb Jahren unfassbare 1,7 Millionen Menschen ermordet.
Das Lager Maly Trostinec etwa 12km südlich von Minsk in Weißrussland/Belarus war zwar kein Teil der industriellen Vernichtungsmaschinerie der "Aktion Reinhardt", trotzdem wurden dort mehr Wiener Juden und Jüdinnen als in den meisten anderen KZ getötet, lediglich in Auschwitz-Birkenau war die Anzahl der Getöteten aus Wien noch höher. Erst in den letzten Jahren in den Focus der Geschichtswissenschaft gerückt, zählt dieses Lager heutzutage mit sechs anderen Tötungsstätten zur Klasse der Vernichtungslager. Von den sechzehn Deportationszügen, die aus dem Westen des deutschen Reiches kommend zwischen November 1941 und Oktober 1942 Maly Trostinec als Ziel hatten, kamen neun aus Wien, jeweils mit rund tausend Personen besetzt. Insgesamt wurden in diesem Lager zwischen 40.000 und 150.000 Menschen ermordet, die meisten kamen aus dem Ghetto Minsk. Genauere Opferzahlen sind nicht feststellbar, da über die meisten Bewohner des Ghettos ebenso wie in den anderen besetzen osteuropäischen Gebieten keine Aufzeichnungen geführt wurden. In den aus Wien ankommenden neun Deportationszügen befanden sich rund 8.700 Menschen. Es sind lediglich 17 Überlebende aus dem Lager Maly Trostinec bekannt.
Die IKG erhielt etwa vierundzwanzig Stunden vor einer "Aushebung" von der "NS-Zentralstelle für jüdische Auswanderung" die Liste mit den Namen der zur Deportation vorgesehenen Personen und musste für deren Erscheinen an den Sammelstellen sorgen. Die meisten jüdischen Bewohner aus dem Haus am Franz-Josefs-Kai 5 außer Etti, Herta und Rita wurden bereits am 20.05.1942 nach Weißrussland verbracht. Die Familie Günsberg kam hingegen erst am 02.06.1942 an die Reihe und wurde "ausgehoben", wie der Eintrag "M.Tr." [Maly Trostinec] auf der Hausliste zeigt.
Nachdem die drei auf dem Schulgelände bzw. im Turnsaal in der Kleinen Sperlgasse 2a, einem der Sammellager, die in ehemaligen jüdischen Schulen eingerichtet worden waren, auf die berüchtigte „Kommissionierung“ zum Abtransport gewartet hatten und Etti einen Vermögensverzicht zugunsten des deutschen Reiches zu unterzeichnen hatte, wurden sie auf offenen LKWs unter den Schmähungen vieler Passanten über die Strecke Schwedenplatz-Ring-Ungargasse zum Bahnhof gebracht.
"Schau Dir an, die Juden. Naja, schleicht’s euch, san wir froh, dass wegfahrts" (Herbert Schrott, KZ-Überlebender aus Wien)
Zusammen mit etwa 1000 weiteren Juden erfolgte mit Transport Nr. 24, Zugnummer Da205 der deutschen Reichsbahn die Deportation vom damaligen Aspangbahnhof (Die Zugnummer Da... verweist auf eine dem gelben Stern auf der Kleidung entsprechende Kennzeichnung dieser Züge mit dem Kürzel für David). Am 4. Juni hielt der Zug in Wolkowysk im südwestlichen Weißrussland, wo sämtliche Passagiere von Personenwagen in Güterwaggons umgeladen wurden. Am 3. Juni hatte die Direktion der Reichsbahn Mitte mitgeteilt, dass mit Da gekennzeichnete Züge (die übliche Kennzeichnung von Judentransporten) einen Tag früher als geplant von Wolkowysk nach Koydanovo fahren würden. Deshalb fuhr der Zug bereits am Donnerstag, dem 4. Juni von Wolkowysk ab. In Koydanovo wurde der Zug wegen des Wochenendes über mehrere Tage unter Bewachung abgestellt. Es fällt schwer, sich die unbeschreiblichen Zustände in den geschlossenen und versiegelten Güterwaggons, die über mehrere Tage weder zur Notdurft noch aus anderem Grund verlassen werden durften, auszumalen. Regelmäßig erlebten einige Opfer aufgrund der Strapazen die Ankunft am Deportationsziel nicht mehr, die anderen waren zu diesem Zeitpunkt wohl auch bei guter Konstitution bereits schwer gezeichnet.
Waggon der deutschen Reichsbahn, ausgestellt in Yad Vashem in Jerusalem; © Andrew Shiva / Wikipedia
"Da fuhr der Zug los. Ich weiß nicht, wie lange wir fuhren. Es war an der polnisch-sowjetischen Grenze, da blieb der Zug stehen, und sie haben uns aus den Personenwagen herausgejagt, und wir mussten in Güterwagen hinein. […] Da waren 70 oder 80 Menschen in einem Güterwagen. Wir mussten stehen. Ohne Wasser, ohne Essen. Die alten Leute haben am schlimmsten gelitten. Aber am schlimmsten war: Da gab es keine Toiletten. Das war das Allerschlimmste" (Hanuš Münz über die Deportation aus Theresienstadt nach Maly Trostinec)
Am 9. Juni 1942 verließ der Zug Koydanovo wieder und erreichte zwischen vier und sieben Uhr früh den Güterbahnhof in Minsk. Angehörige des Sicherheitsdienst Minsk kontrollierten die Deportierten und beaufsichtigten das Entladen der Fracht. Sie trieben die Juden zu einem nahe gelegenen Sammelplatz, wo eine andere Gruppe von Angehörigen des Sicherheitsdienstes ihnen ihre verbliebenen Wertgegenstände abnahm. Danach wurde eine Selektion durchgeführt, bei der meist 20 bis 50 junge Männer für die Zwangsarbeit im Konzentrationslager herausgesucht wurden. Die meisten dieser Zwangsarbeiter wurden Ende Juni 1944, nur wenige Tage vor dem Eintreffen der roten Armee, ermordet.
Die restlichen Juden des Transports wurden vom Güterbahnhof in Minsk auf LKWs zu vorher ausgehobenen Gruben in ein Kiefernwäldchen nach Blagovshchina in der Nähe von Maly Trostinec gebracht [etwas später, Mitte August 1942, wurde ein stillgelegter Gleisanschluss von Kolodisze kommend in Betrieb genommen, der fast unmittelbar an die Richtstätte führte] und bekamen das eigentliche Lager erst gar nicht zu Gesicht. Dort wurden die Delinquenten von Angehörigen der Waffen-SS und Schutzpolizei, die bereits auf sie gewartet hatten, ermordet, zumeist durch Erschießen. Die Angehörigen der Schutzpolizei rekrutierten sich in Weißrussland nicht, wie sonst üblich, aus Einheimischen, da Weißrussland unter den besetzten Gebieten den geringsten Anteil an Kollaborateuren und stattdessen den höchsten Anteil an Partisanentätigkeit aufwies. Daher stammten die meisten Mitglieder der Hilfskräfte aus der Ukraine, aus Lettland und aus Litauen.
Ein Teil der Deportierten, wahrscheinlich auch Etti, Herta und Rita, wurde in einen der in diesem Monat erstmals eingesetzten, getarnten Gaswagen geladen und auf dem Weg zu den Gruben mit Auspuffgasen erstickt. Dies lässt sich aus der eidesstattlichen Erklärung, des Kriegsverbrechers Otto Ohlendorf ableiten, der zu Protokoll gab, dass seine Einsatzgruppe im selben Zeitraum, jedoch an anderem Ort, ebenfalls Gaswagen zugeteilt bekam mit dem Befehl, diesen für Frauen und Kinder zum Einsatz zu bringen. [Dies, um die Psyche der Täter zu schonen. Den meist jungen Männern, die die Erschießungen ausführten, konnte man männliche Delinquenten, unterstützt durch die offensive NS-Propaganda, als Bedrohung verkaufen. Bei Frauen und Kindern hatten aber dann viele doch Skrupel. Daher die Methode mit den Gaswagen. Bereits im September 1942 wurde diese Tötungsart wieder aufgegeben, da die Reinigung der Wagen einen zu hohen Aufwand erforderte.]
Nur eine Woche später, am 15.06.1942, sollte der Cousine ihrer Mutter Etti, Pepi-Engler Morawetz, und ihrem Sohn Heinz an selber Stelle ebenfalls dieses Schicksal zuteil werden.
Die NICHT-Aufarbeitung dieser Verbrechen kann als beschämendes Musterbeispiel der österreichischen Nachkriegsjustiz betrachtet werden, die ja noch von Richtern und Beamten aus der NS-Zeit durchsetzt war und trotz vorhandener Unterlagen vollkommen bewusst nicht tätig wurde. So wurden Kuverts mit Unterlagen, die von den deutschen Ermittlungsbehörden an die österreichischen Kollegen übermittelt worden waren, nicht einmal geöffnet. Obwohl, wie an vielen anderen Orten, eine unverhältnismäßig hohe Zahl an österreichischen Verbrechern an den Greueln beteiligt war, erfolgte im Zusammenhang mit Maly Trostinec lediglich ein einziges österreichisches Verfahren gegen ein Mitglied des KdS Minsk, den Gaswagenfahrer Josef Wendl. Er wurde 1970 freigesprochen, weil ihm die Geschworenen bescheinigten, unter Befehlsnotstand gehandelt zu haben.
Der Österreichische Bundespräsident Alexander van der Bellen erinnerte in einer Rede 2015 anlässlich einer Gedenkveranstaltung in Blagovshchina: ..."Dass der Schreckensort Maly Trostinez und die Namen der Toten nicht endgültig dem Vergessen anheimfielen, sei letztlich aber nicht das Verdienst der Politik gewesen, sondern dem zivilgesellschaftlichen Engagement von Waltraud Barton und dem von ihr gegründeten Verein IM-MER zu verdanken."...
Rita Günsberg 1931 animiert
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Auch im Buch der Namen in Yad Vashem ist sie vermerkt, wenn auch die Angaben dort sehr fehlerhaft sind. Das Buch der Namen listet sämtliche 4,8 Millionen Einträge der namentlich bekannten Holocaust Opfer auf. Die restlichen rund 1,2 Millionen Namen konnten bislang nicht eruiert werden.