Rafael Günsberg wurde am 23.09.1884 in Schurawno/Zurawno, nahe Lwiw (Lemberg) in der heutigen Ukraine, damals (bis 1918) österreichisches Kronland Galizien, als Sohn von Jona Günsberg und Reise Fanger geboren. Er wurde offensichtlich nach seinem Großvater Rafael Fanger, der kurz zuvor, 1882, in Wien gestorben war, benannt.
Er heiratete in Zurawno am 01.10.1908 Chaje Klara Katz (*17.05.1881). Sie bekamen in Zurawno drei Töchter namens Regina/Ryfka (*04.04.1907), Bertha/Basia (*28.05.1908) und Helga/Hilda (*1910), allesamt Cousinen von Max Günsberg.
Im Jahr 1912 wurde Rafael unschuldig in einen aufsehenerregenden Kriminalfall verwickelt. In der Nacht zum 13.12.1912 wurde der aus Böhmen stammende deutschsprachige Großgrundbesitzer Albrecht Seelieb Opfer eines Raubüberfalles und bei diesem tödlich verletzt. Wie oftmals in ähnlichen Fällen wurden die Tatverdächtigen in Form jüdischer Nachbarn ("Individuen") schnell ausgemacht und bezichtigt. R. Günsberg aus Zurawno sowie wahrscheinlich sein Schwager namens Merksamer (Rafaels Schwiegermutter hiess Merksamer) und zwei weitere Personen wurden am 29.01.1913 verhaftet:
Spätestens im Juni 1913 sollte sich durch die Verhaftung der wahren Täter die Unschuld von Rafael und der anderen herausstellen:
Nach Beginn der ersten Weltkrieges im August 1914 kam es, ausgelöst durch die Offensive der russischen Armee in Ostgalizien und den Rückzug der k. u. k. Armee – im Sommer und Herbst 1914, während der die russische Armee in Ostgalizien bis an die Karpaten vorgedrungen war, zu einer großen Flüchtlingswelle. Mit dieser kam auch Rafaels Familie am 14.10.1914 nach Wien und lebte für einige Monate in einer ersten Unterkunft in 1030 Wien, Custozzagasse 6/3. Offenbar musste Rafael altersbedingt auch keinen Militärdienst verrichten.
Im Folgejahr lebte die Familie von 08.01.1915 bis 17.08.1915 in 1030 Wien, Adamsgasse 1/3. Im gleichen Jahr erfolgte ein weiterer Umzug, offenbar in eine größere Wohnung, und die Familie wohnte nun über einen längeren Zeitraum von 11.08.1915 bis 03.04.1917 in 1030 Wien, Obere Viaduktgasse 20/7. Als Rafaels Bruder Setyk Günsberg im Februar 1917 von der Rekonvaleszenz nach einer erlittenen Kriegsverletzung aus Krakau nach Wien kam, bot ihm Rafaels Familie eine erste Unterkunft in ihrer Wohnung und sie lebten hier zwei Monate gemeinsam bis Anfang April 1917. Danach zogen Rafael und seine Familie in eine andere Wohnung in 1030 Wien, Adamsgasse 16/2, wo sie von 05.04.1917 bis 30.07.1918 lebten. Am 17.08.1917 bekamen Klara und Rafael eine weitere Tochter namens Amalia (ebenfalls eine Cousine Max Günsbergs). Im September 1917 kam Rafaels Bruder Setyk erneut als Nachbar zu Rafaels Familie und bewohnte ab 22.09.1917 die unmittelbare Nachbarwohnung in 1030 Wien, Adamsgasse 16/3.
Nach der Oktoberrevolution in Russland 1917 und dem darauffolgenden Friedensschluss von Brest-Litowsk im März 1918 verblieb Galizien erneut bei Österreich-Ungarn. Dies veranlasste Rafael mit seiner Familie offenbar wieder nach Galizien zu ziehen. Der Abmeldevermerk in Wien datiert vom 30.07.1918. Möglicherweise sah sich Rafael als ältester Sohn verpflichtet, sich um seine in Galizien verbliebene und wahrscheinlich zu diesem Zeitpunkt noch lebende Mutter Reisie Fanger-Günsberg zu kümmern. Davon unabhängig hatte Wien zu dieser Zeit durch den massenhaften Zuzug von Kriegsflüchtlingen aus allen Teilen der Monarchie ohnehin mit katastrophalen Platz- und Versorgungsproblemen zu kämpfen und die Repatriierung möglichst vieler Flüchtlinge wurde aktiv betrieben. Die ungeliebten jüdischen Galizianer wollte man nach Möglichkeit ohnehin loswerden.
Nur einige Monate später kam Galizien nach dem Zusammenbruch der Monarchie im November 1918 allerdings zu Polen und der Ukraine. Damit hatte Rafael wie viele andere wahrscheinlich nicht gerechnet.
Rafaels Familie lebte anschließend in der Bezirkshauptstadt Stryj und nicht mehr in Rafaels Herkunftsort Zurawno. Da keine Hinweise auf eine Emigration existieren, war die Familie wohl auch noch während des zweiten Weltkrieges dort ansässig und demnach in einem Bereich, in dem die deutschen und ukrainischen Nazi-Schergen von 1941 bis 1944 besonders brutal wüteten. Die Familie von Rafael Günsberg wurde im Zuge dessen praktisch ausgelöscht. Eine Ahnung der in Stryj verübten Greuel ist hier zu bekommen: The Destruction of the Stryj Community; Holocaust Chapters by Jonah Friedler
Über das weitere Schicksal der Familie existieren nur wenige Unterlagen.
Nicht verifizierbar ist ein Eintrag im Branchenverzeichnis der Stadt Stryj aus dem Jahr 1929, in dem ein R. Grünsberg als Eisenhändler genannt ist, dessen Name vielleicht falsch geschrieben wurde, was relativ häufig vorkam. Es handelt sich also möglicherweise um Rafael Günsberg.
Im selben Verzeichnis von Stryj aus dem Jahr 1929 findet sich ein N. Günsberg als Hanfhändler, der bislang nicht unserer Familie zugeordnet werden konnte.
Was geschah mit den Tätern?
Die in Stryj eingesetzten Polizei- und Ordnungskräfte, die maßgeblich für die massenhafte Ermordung der jüdischen Bevölkerung verantwortlich waren, rekrutierten sich hauptsächlich aus Angehörigen der Wiener Polizei, also ausgerechnet aus jener Stadt, die Rafael und seine Familie Jahre zuvor verlassen hatten:
"Die Auslöschung der jüdischen Gemeinde Stryj und das Schutzpolizeiregiment 24. Anfang Oktober 1941 erhielt eine 20-köpfige Gruppe von Polizisten aus Wien den Marschbefehl nach Stryj in Ostgalizien (in der heutigen Ukraine), um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Erst im Sommer 1944 traten sie den Rückzug an. Zurückgelassen hatten sie eine Blutspur von ca. 30 000 ermordeten Jüdinnen und Juden, entweder per Bahn nach Belcez ins Gas geschickt oder bei sogenannten »Umsiedlungen« erschossen."
(aus: Ulrich Schmidt »Ich gebe zu, gehört zu haben«)
Obwohl die Verbrechen der Schutzpolizei offensichtlich und die Beweislast erdrückend waren, kam es im Verlauf der Volksgerichtsprozesse in Wien nach 1945 nur zu sehr wenigen Verurteilungen bzw. Strafzumessungen: Schupo-Kriegsverbrecher von Stryj vor dem Wiener Volksgericht, Published in Haifa, June 1957