Familie Engler

Familie des Großvaters von Max Günsberg, mütterlicherseits

Beziehung von Max Günsberg zur Familie Engler

Isaak und Klara Engler kamen mit ihren Kindern 1914 nach Wien. Zwei Jahre später folgte ihnen auch Klaras Schwägerin Pessi Engler (geborene Singer) mit ihren drei Kindern nach Wien, Pessis Mann und damit der Bruder von Klara, Moses Engler, war bereits zuvor in der Bukowina verstorben.
Eine Tochter von Pessi Engler namens Etti heiratete in Wien den aus Galizien stammenden Setyk Günsberg. Deren erstes Kind Max Günsberg kam 1920 in Wien zur Welt und verbrachte seine ersten sechs Lebensjahre im Haus der Englers in 1030 Wien, Radetzkystraße 10.


Die Heimat der Familie Engler war im 19. Jahrhundert Walawa im Gerichtsbezirk Kotzmann im damals (bis 1918) österreichischen Kronland Bukowina. Der Ort heisst heutzutage Valyava und liegt in der Ukraine rund 20km nördlich von Czernowitz. Der jüdische Anteil an den ca. 2.000 Einwohnern von Walawa lag im Jahr 1900 bei gerade einmal 5-10%. Die Aufzeichnungen der jüdischen Gemeinde aus dem Gerichtsbezirk Kotzmann sind in den Wirren nach dem ersten Weltkrieg verloren gegangen, daher lassen sich keine Personenstandsdokumente aus Walawa mehr finden. Aus DNA-Analysen der Nachkommen lässt sich feststellen, dass die Familie Engler aschkenasische Wurzeln hat, also ursprünglich aus Westeuropa stammt.
Der Arbeits- und Lebensmittelpunkt vieler Familienmitglieder war wohl die nahegelegene Hauptstadt der Bukowina, Czernowitz, sowie das unmittelbar an Czernowitz angrenzende Sadagora als eines der bedeutendsten Zentren jüdischer Kultur. Sadagora ist heutzutage ein Stadtteil von Czernowitz.

Hier war die Familie offenbar gut integriert und machte daher in den 1870/1880er Jahren nach der Dezemberverfassung /Staatsgrundgesetz von 1867 und der damit erstmalig in der Geschichte erfolgten Gleichstellung der Juden mit anderen Ethnien nicht von der mit der Niederlassungsfreiheit in der geamten Monarchie zusammenhängenden Möglichkeit Gebrauch, einen wirtschaftlichen Neuanfang in der Residenzstadt Wien zu versuchen. Dies im Gegensatz zu Zehntausenden anderen Juden, die auf diese Weise der tristen wirtschaftlichen Situation m galizischen Hinterland entfliehen wollten.

Vor 1910 übersiedelten Isaak und Klara Engler mit ihren acht Kindern nach Czernowitz. Hier wohnten sie bis 1914 in einem Haus in der Franzosgasse 20 (heute Ivana Bohuna, 20), mutmaßlich in Untermiete, da sie in den Adressbüchern der Stadt von 1909 und 1914 nicht aufscheinen.

Das Haus der Famile Engler in Czernowitz in der Franzosgasse 20


Der bereits großjährige Leon Engler wohnte mit seiner Familie zu diesem Zeitpunkt ein paar Häuser weiter in der Franzosgasse 10.

Im Jahr 1914 kamen Isaak und Klara und ihre Kinder dann aus der Bukowina nach Wien. Zwei Jahre später, 1916, folgte ihnen Klaras Schwägerin Pessi Engler (geborene Singer), deren Mann Moses Engler ein Bruder von Klara Engler gewesen und bereits kurz nach der Geburt der Kinder im Jahr 1896 verstorben war, mit ihren Kindern Etti, David und Sindel nach Wien.

Die dann doch noch erfolgte Emigration nach Wien erfolgte wie bei unzähligen anderen Familien, um den Kriegshandlungen an der österreichisch-russischen Front und einer eventuellen Einnahme Czernowitz´ durch russische Truppen zu entgehen. (Juden waren in Russland im Gegensatz zu Österreich anderen Ethnien rechtlich nicht gleichgestellt und quasi vogelfrei). Schon kurz nach Kriegsbeginn eroberte die russische Armee Czernowitz um dieses einige Zeit später wieder zu verlieren. Insgesamt sechs mal wechselte die Besatzung während des Krieges.

Der Weg, den die Familie damals natürlich mit der Eisenbahn genommen hat, lässt sich nachvollziehen.

Czernowitz Hauptbahnhof

Vom Hauptbahnhof in Czernowitz ausgehend führte die Strecke über Lemberg (Lwiw), Krakau und Brünn bis zum imposanten Wiener Nordbahnhof, der unmittelbar nördlich angrenzend zum heutigen Praterstern lag und im zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Die imperiale Pracht dieses größten aller Bahnhöfe in Österreich-Ungarn muss auf Neuankömmlinge aus der Provinz gehörigen Eindruck gemacht haben.

Wien Nordbahnhof um 1900


Die oft mittellosen „Ostjuden“ waren in Wien alles andere als willkommen, selbst die bereits hier ansässigen und oftmals assimilierten Juden waren nicht gerade begeistert, befürchteten sie doch durch den massenhaften Zuzug zusätzliche Konkurrenz beim Bestreiten ihres oft kärglichen Lebensunterhaltes sowie eine Ausweitung des ohnehin vorhandenen latenten Antisemitismus.


Option zur Staatsangehörigkeit


Mit Ende des ersten Weltkrieges 1918 und durch den Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie in ihre diversen Nachfolgestaaten stellte sich für die nach Wien Migrierten ein neues Problem. Aus allen Teilen der ehemaligen Monarchie strömten Menschen in die ehemalige Residenzstadt, die dadurch aus allen Nähten platzte. Die Folgen waren unglaubliche Armut und Lebensmittelknappheit. Um einer drohenden Hungersnot entgegenzuwirken, suchte die Staatsverwaltung Wege, den Zuzug zu stoppen und nach Möglichkeit zumindest einen Teil der Neuankömmlinge wieder loszuwerden. Breiter Konsens herrschte bezüglich der Repatriierung galizischer, hauptsächlich jüdischer, Einwanderer, die man unter anderem auch durch Übernahme der Fahrtspesen zu einer Rückkehr nach Galizien zu bewegen versuchte. Dieser Maßnahme war jedoch nur überschaubarer Erfolg beschieden. Unter den wenigen, die tatsächlich zurückkehrten, war die Famile von Rafael Günsberg. Wahrscheinlich wollte er sich um seine noch in Galizien verbliebene Familie kümmern.

Als, wie so oft während solcher politischen Phasen, xenophobe deutsch-nationale Politiker an Einfluss gewannen, griff man auf Alternativen zurück. Zunutzen kam dabei nicht unwesentlich der Friedensvertrag von St. Germain und der darin enthaltene, unglücklich formulierte Artikel 80 über das Optionsrecht zur Staatsangehörigkeit. Nach langen Verhandlungen war auf Drängen der österreichischen Delegation unter Führung von Staatskanzler Renner - entgegen einer von den Alliierten eingebrachten Vorlage – vereinbart worden, dass grundsätzlich jeder Bürger der früheren österreichisch-ungarischen Monarchie jenem Staate angehören sollte, in dem sich die Gemeinde befand, in der er heimatberechtigt gewesen war. Darüber hinaus jedoch sollten sowohl "die Bewohner der strittigen und einer Volksabstimmung unterworfenen Gebiete" als auch "Personen fremder Rasse und Sprache" jenen Staat durch Option zur Heimat wählen können, "dem sie nach Rasse und Sprache angehören".

Während man bei deutschsprachigen Optanten aus dem Staatsgebiet der nunmehrigen Tschechoslowakei mehrheitlich auf die Sprache abstellte und deren Anträge meist positiv beschieden wurden, verfuhr man mit den ungeliebten jüdischen Zuwanderern aus Galizien und der Bukowina ganz anders und legte die "Rasse" als Entscheidungskriterium zugrunde. Die Formulierung der anzuwendenden Kriterien "par la race et la langue" im französischen Originaltext des Vertrages war auch insofern problematisch, als dem Begriff "race" im Deutschen und Französischen durchaus unterschiedliche Bedeutungen zukamen. Die deutsche Zuweisung einer ethnischen oder der Religionszugehörigkeit entsprechenden Kategorisierung war im Französischen so nicht vorhanden, sondern dort mit nationaler Konnotation belegt. Daher wurden diese Begrifflichkeiten bei der Begutachtung durch deutsche Übersetzer auch kritisiert, jedoch von den französischen Autoren nicht berücksichtigt. Dies bot antisemitisch eingestellten politischen Funktionsträgern eine willkommene Gelegenheit, jüdischen Optanten aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Glaubensgemeinschaft praktisch ausnahmslos eine Abweisung ihrer Anträge zu erteilen. 1919 wurde sogar die Ausweisung aller galizischen Flüchtlinge in Österreich, die vor dem Krieg noch kein Heimatrecht in einer Gemeinde der nunmehrigen Republik Österreich besessen hatten, beschlossen, dies war allerdings aufgrund logistischer Umstände (zu wenige Transportmittel, nicht aufnahmebereite Staaten, etc..) nicht umsetzbar (Sever-Erlass).

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass immerhin drei der Engler-Brüder (Karl, Salomon und Alfred) zu den ganz wenigen zählten, die dennoch die österreichische Staatsbürgerschaft erhielten. Lediglich Leon teilte das Schicksal der allermeisten galizischen Juden, sein Antrag wurde trotz mehrfachen Einsprüchen und der juristischen Unterstützung durch seinen Bruder Karl ebenso abgewiesen wie die Anträge von Klara Engler, ihrer Tochter Pepi und allen Mitgliedern der Familie Günsberg. Die Argumentation von Leon Engler folgte übrigens exakt der oben beschriebenen Kritik am Friedensvertrag von St. Germain:



Da es für galizische Juden also fast unmöglich war, die österreichische Staatsbürgerschaft zu erhalten, blieb nur der Weg, das der Staatsbürgerschaft de facto gleichgestellte Heimatrecht in Wien anzustreben. Dieses konnte unter anderem durch Ersitzung über einen Zeitraum von zehn ununterbrochenen Jahren Aufenthaltes oder/und durch Beamtentum erlangt werden. Folgerichtig bezeichneten sich viele der Migranten als "Privatbeamte". Auch in den Familiendokumenten und Meldezettel der Englers, Günsbergs und Fangers taucht diese Berufsbezeichnung sehr oft auf. Die Familie von Max Günsberg bekam dann erst 1933 endlich das ersehnte Heimatrecht.


Die beiden Engler-Familien lebten in Wien im dritten Bezirk, in der Radetzkystraße 10. Max´ Großmutter Pessi Engler (Singer) bewohnte mit ihren drei Kindern eine Wohnung im ersten Stock, Tür Nr.5. Ihre Schwägerin Klara Engler und deren Mann Isaak lebten mit einigen ihrer acht Kinder im zweiten Stock, Tür Nr.14.


1030 Wien, Radetzkystraße 10, streetview 2021

Das Haus der Familie Engler in 1030  Wien, Radetzkystraße 10


Isaak und Klara hatten mit den vielen Kindern wohl ihre liebe Raumnot. Aus diesem Grund lebte eine ihrer Töchter, Fani,  während des ersten Weltkrieges (1914-1918), als ihr Mann Josef Krumholz in der Armee diente, mit ihrem kleinen Sohn Wilhelm nicht bei den eigenen Eltern Klara und Isaak, sondern ab 1917 in der Wohnung von Max´ Großmutter Pessi mit deren Kindern.
Als Pessis Tochter Etti im Jahr 1919 Max´ Vater Setyk Günsberg heiratete, wurde es auch in dieser Wohnung zu eng und das frisch getraute Ehepaar Günsberg zog an eine andere Adresse ganz in der Nähe, wo dann Max 1920 zur Welt kam. Als wiederum Fani und Josef Krumholz ihr zweites Kind (Robert) erwarteten, suchten sie sich ebenfalls eine eigene Wohnung. Dadurch wurde bei Pessi wieder Platz, Etti und Setyk konnten mit dem kleinen Max wieder bei Pessi einziehen. Nachdem sie dann 1925 eine weitere Tochter (Herta) bekommen hatten und es bei Pessi erneut zu eng geworden war, bezogen sie 1926 eine eigene Wohnung in 1030 Wien, Obere Weißgärberstraße 28/3.

Max Günsberg hatte wiederholt als Familiensitz die Radetzkystraße erwähnt, hier war also in den 1920ern und 1930ern der Mittelpunkt des Familiengeschehens. Auch Max lebte als Kleinkind mit seinen Eltern sechs Jahre lang hier und im Schoß dieser vielköpfigen Familie aus der Bukowina wuchs der kleine Max auf. Daraus erklärt sich, dass er als Herkunftsort seiner Familie stets die Bukowina verstand, obwohl sein Vater, Setyk Günsberg, ja eigentlich aus Galizien stammte. 

Laut den Erzählungen von Wilhelm Krumholz war die ganze Familie nicht eben religiös, nur die ganz hohen Feiertage wurden im Haupttempel in der Seitenstettengasse begangen. Geburtstage wurden überhaupt nicht gefeiert, das war damals völlig unüblich. Die Engler-Söhne und ihre Schwager pflegten in ihrer Freizeit gerne das Kartenspiel im Lusthaus im Wiener Prater. Die Kinder, und da war auch Max öfter dabei, durften währenddessen in der Nähe spielen. Ich kann mich daran erinnern, dass mir Max wiederholt vom unbeschwerten Spielen am Heustadelwasser ganz in der Nähe des Lusthauses erzählt hat.

Die Herausforderungen, die die Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre bereithielt, brachten auch einige Familienmitglieder (Fanis Mann Josef und Bertas Mann Fabian), die eigene Geschäfte betrieben, in gehörige Turbulenzen.

Die Kinder von Isaak und Klara waren zu Max Günsberg streng genommen mütterlicherseitige Cousins und Cousinen zweiten Grades, für Max waren sie im Familienverband jedoch allesamt Onkel und Tanten, ihre Kinder waren seine Cousins und Cousinen, mit denen er bei Familienfeiern und wohl oft auch im Alltagsleben im Hause Engler oft zu tun hatte.


Die folgenden beiden Fotos sind leider völlig unkommentiert bei Max Günsbergs Hinterlassenschaft. Es zeugt vom starken Familienverband der Familien Günsberg und Engler. Max Günsbergs Großmutter Pessi Singer-Engler war die verwitwete Schwägerin von Klara Engler. Pessi und Klara wohnten mit ihren jeweiligen Familien jahrzehntelang praktisch Tür an Tür in der Radetzkystraße 10 und hatten offenbar sehr engen Kontakt. Max´ Vater Setyk Günsberg dürfte fotografiert haben, da er auf den Fotos nicht zu sehen ist. Die Bilder sind um 1937 im Hof des Stiftes Heiligenkreuz bei Wien entstanden. Mangels Vergleichsmöglichkeiten sind manche Zuordnungen nur Vermutungen, einiges dürfte aber stimmen.

Familien Günsberg, Krumholz, Singer und Engler

    • 1:       Bruno Engler, Leon Englers Sohn, zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt
    • 2:       Lilly Engler, Leon Englers Tochter, 19 Jahre      
    • 3:       Julia Engler, Brunos Frau, 27 Jahre
    • 4:       Baruch Bernhard Günsberg, (Cousin von Setyk Günsberg), 48 Jahre
    • 5:       Max Josef Koss, Sohn von Abraham David Singer, 6 Jahre
    • 6:       Max´ Mutter Etie Feige Günsberg (geb. Singer-Engler), 47 Jahre
    • 7:       Max´ Schwester Rita Günsberg, 7 Jahre
    • 8:       ?
    • 9:       Max Günsberg, 17 Jahre
    • 10:     ?
    • 11:     Max´ Onkel Abraham David Singer-Engler (Bruder von Etti), 44 Jahre
    • 12:     Cilli Engler (Leon Englers Frau, geb. Reifler), 47 Jahre
    • 13:     Wilhelm Krumholz (Sohn von Fani und Josef Krumholz), 22 Jahre; diese Zuordnung stimmt definitiv, von seiner Tochter bestätigt
    • 14:     Leon Leib Engler, 51 Jahre
    • 15:     Josef Krumholz, 47 Jahre     
    • 16:     Fani Krumholz (geb. Engler), 46 Jahre
    • 17:     Robert Krumholz (Sohn von Fani und Josef Krumholz), 17 Jahre

2021 versammelte sich die Familie virtuell nochmal zum gleichen Foto:

Günsberg & Engler 2021


Auf dem nachfolgenden Foto sind auch Max Günsbergs  Großmutter Pessi Singer und Großtante Klara Engler abgebildet:

Pessi und Klara Engler mit Familie


Nach dem Anschluss Österreichs an das deutsche Reich am 12.03.1938 und der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten fand das traute Familienleben ein jähes Ende. Die Hälfte der Familie Engler überlebte die Shoa (1938-1945) und wurde über die halbe Welt verstreut. Lediglich die Familie von Berta Engler-Seliger siedelte sich nach 1945 dauerhaft wieder in Wien an.

Die Shoa-Bilanz der Familie Engler: 26 Mitglieder der Familie lebten im Sommer 1938 in Wien. Genau die Hälfte kam im Holocaust ums Leben:
Name
überlebt
nicht überlebt
Emigrationsziel
Leon Engler
x

USA
Cilli Engler
x

USA
Bruno Engler
x

USA
Lilly Engler
x

USA




Salomon Engler
x

Israel
Alice Engler
x

Israel
Peter Engler
x

Israel
Uri Engler


Israel, erst auf der Flucht geboren




Karl Engler
x

Schweiz




Fani Engler-Krumholz

x

Josef Krumholz

x

Wilhelm Krumholz
x

USA
Robert Krumholz

x





Berta Engler-Seliger
x

Schweiz, dann Österreich
Fabian Seliger
x

Schweiz, dann Österreich
Kurt Seliger
x

Schweiz, dann DDR, dann Österreich
Rita Seliger
x

Schweiz, dann Österreich




Dora Engler-Fuchs

x

Julius Fuchs

x

Edith Fuchs

x





Pepi Engler-Morawetz

x
Leopold Morawetz

x
Heinz Morawetz

x





Alfred Engler

x

Edith Engler

x

Evelyn Engler

x

Heinz Engler

x


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