Max Günsberg


Jugendjahre in Wien


Max Günsbergs aus Galizien bzw. der Bukowina eingewanderte Eltern Setyk Günsberg und Etti Engler-Singer heirateten am 11.02.1919, also gerade einmal drei Monate nach Ende des ersten Weltkrieges, im Büro des Rabbiners Dr. Grunwald neben dem Wiener Haupttempel im ersten Bezirk in der Seitenstettengasse 4. Laut einem ehemaligen dortigen Mitarbeiter wurde diese Adresse im Trauungsbuch nur angegeben, wenn die Trauung im Büro statt im Tempel vollzogen wurde. Bei solchen Eheschließungen wurde nicht so sehr auf eigentlich verpflichtend vorzulegende Dokumente geachtet und Etti wurde als ehelich geborene Engler verzeichnet. Die Hochzeit von Ettis Eltern Moses Engler und Pessi Singer in der Bukowina war jedoch nie ordnungsgemäß in den Matriken verzeichnet worden und galt daher als nicht zivilrechtskräftig. Erst 1926 fiel diese Unstimmigkeit bei anderer Gelegenheit auf und der Name von Ettis Mutter Pessi wurde vom fälschlich eingetragenen, ehelichen Nachnamen "Engler" auf ihren Mädchennamen "Singer" abgeändert, ebenso natürlich die Nachnamen von Pessis Tochter Etti und auch deren Geschwistern David und Sindel.

Bald nach der Hochzeit, am 04.03.1919 zogen Setyk und Etti gemeinsam in die Untere Viaduktgasse 33/8. An dieser Adresse wohnte Jahre zuvor schon die Familie von Setyks Tante Sabine Brill. Bereits am 02.06.1919 erfolgte ein erneuter Umzug in die Radetzkystraße 17/II und im Folgejahr, am 04.02.1920, wurde eine Wohnung in der Hetzgasse 43/9 bezogen.

Praktisch alle Adressen der Fangers/Günsbergs/Brills liegen im dritten Bezirk und kaum ein Eintrag bezieht sich auf die jüdisch geprägte „Mazzesinsel“ in der Leopoldstadt (2.Bezirk). Das hat sicher mit dem Standort des Schlachthofes und der Fleischmarkthalle, die beide im dritten Bezirk situiert waren, zu tun. Die jüdischen Metzger, und die Fangers/Brills und Günsbergs waren ja allesamt solche, siedelten sich verständlicherweise in der Nähe ihres Arbeitsplatzes an. Der Bezug zum dritten Bezirk sollte sich auch später bei Max Günsberg noch jahrzehntelang nicht ändern.

Geburtshaus von Max Günsberg

Das Geburtshaus von Max Günsberg in der Hetzgasse 43


Bereits gut ein Monat nach der Übersiedlung in die Hetzgasse erblickte Max Günsberg am 15.03.1920 mit Hilfe einer Hebamme (übrigens dieselbe Stefanie Heimer (*1881/✡1929), die bereits 1915 Fani Englers Sohn Wilhelm entbunden hatte) als erstes Kind von Setyk und Etti Günsberg das Licht der Welt, die Beschneidung und die jüdische Namensgebung auf den Namen Moische erfolgte am 22.03.1920. Am 29.08.1920 erfolgte schon wieder ein Wohnungswechsel in die Radetzkystraße 10/5, also nochmal zurück in die winzige Wohnung von Ettis Mutter Pessi Singer und Ettis Bruder Abraham David Singer.

Der kleine Max entwickelte sich gut, konnte laut den Angaben seiner Eltern auf einem Fragebogen bei Schuleintritt mit 9 Monaten gehen und mit 14 Monaten sprechen und zeigte sonst keine Auffälligkeiten. Laut derselben Quelle besuchte er auch keinen Kindergarten.


Max Günsberg hat wiederholt als Familiensitz die Radetzkystraße 10 erwähnt. An dieser Adresse verbrachte er als Kleinkind die ersten sechs Lebensjahre mit seinen Eltern und seiner mütterlichen Großmutter in der winzigen Wohnung im Erdgeschoss auf Nummer 5, wo auch noch sein Onkel Abraham David Singer lebte. In dieser Wohnung muss es unglaublich beengt zugegangen sein. Im selben Haus im zweiten Stock, Tür Nummer 14, lebte die vielköpfige Familie Engler, mit der er über seine mütterliche Großmutter Pessi verwandt war. In der Radetzkystraße 10 war also in den 1920ern und 1930ern eindeutig der Mittelpunkt des Familiengeschehens und im Schoß dieser großen Familie seiner mütterlichen Seite (Günsberg-Engler) aus der Bukowina wuchs der kleine Max auf. Daraus erklärt sich, dass er als Herkunftsort seiner Familie stets die Bukowina (Familie Engler/Singer stammte aus der Nähe von Czernowitz und lebte eine Zeitlang vor Ihrer Übersiedlung nach Wien auch direkt in Czernowitz) verstand, obwohl sein Vater Setyk Günsberg ja eigentlich aus Galizien in der Nähe von Lemberg stammte. Auf dem Gruppenfoto in Heiligenkreuz ganz unten auf dieser Seite ist der enge Familienverband der Günsbergs und Englers zu erkennen.

Gerhard Günsberg vor der Wohnung Radetzkystraße 10 Tür 5

Gerhard Günsberg vor der winzigen Wohnung in der Radetzkystraße 10/5,
die heutzutage als Fahrradabstellraum dient


Nachdem 1925 Max´ Schwester Herta zur Welt gekommen war und es in Pessis Wohnung nun wohl endgültig zu eng geworden war (zu diesem Zeitpunkt hatte auch Ettis Bruder Abraham David, der ja ebenfalls in dieser Wohnung wohnte, eine Familie gegründet und erwartete seinen ersten Sohn), erfolgte am 13.08.1926 der Umzug in eine andere Wohnung, ebenfalls im dritten Bezirk, in der Oberen Weißgerberstraße 28, Tür 3. Hier sollte Max mit seiner Familie nun einen Großteil seiner Kindheit verbringen. Seit dem Umzug in die Weißgerberstraße im Jahr 1926 scheint die Familie Setyk Günsberg erstmals als Hauptmieter und damit auch im Wiener Adressbuch auf.

Laut der persönlichen Auskunft von Alfred Streit (siehe weiter unten) wurde im Hause Günsberg wie auch im Hause Streit generell deutsch gesprochen. Lediglich wenn von etwas die Rede war, das die Kinder nicht verstehen sollten, griffen die Eltern auf die polnische Sprache ihrer Herkunftsregion in Galizien zurück. Dort wiederum war vor der Emigration nach Wien praktisch ausschließlich jiddisch gesprochen worden.

Setyk/Sigmund, Max, Herta und Etti Günsberg, ca. 1928


Synagoge


Seinem Sohn Sandro hat Max Günsberg erzählt, dass seine Familie als Synagoge die "Schiffschul" in 1020 Wien, Große Schiffgasse 8, nutzte und er als Bub dort gesungen hätte. Diese Synagoge wurde 1938 zerstört, im Nachfolgebau ist heutzutage erneut eine Synagoge untergebracht.

Schiffschul Innenansicht

Schulausbildung


Am 16.09.1926 erlebte Max Günsberg in der Volksschule in der Kolonitzgasse 15, keine fünf Minuten zu Fuß von der elterlichen Wohnung entfernt, seinen ersten Schultag. In dieser Schule gab es getrennte Mädchen- und Bubenklassen, die praktisch ausschließlich von männlichen Lehrern unterrichtet wurden. Hier lernte er seinen künftig besten und bis zum Zeitpunkt der Emigration engsten Freund Isidor Streit ("Isi") kennen. Max ist auf dem Foto unterhalb in der Mitte genau unterhalb seines Lehrers Josef Jax (*17.02.1889/+19.04.1948) zu sehen, sein Gesicht ist jedoch teilweise im Schatten. Sein Freund Isi steht auf dem Foto weiter links, etwa in der Mitte, in der hinteren Reihe, mit einem Schal.

Sein Lehrer Josef Jax wurde von George Mandler, einem später in New York ansässigen und renommierten Psychologen, der unmittelbar nach Max Schulbesuch (1926-1930) in den Jahren von 1930-1934 ebenfalls Josef Jax als Klassenlehrer hatte, als klug und freundlich beschrieben.

Max und sein Freund Isi Streit vor der Schule Kolomitzgasse
Isidor /Leon Streit    Isi Streit und Max Günsberg vor der Schule in der Kolonitzgasse  Max Günsberg

Max mit seiner Schulklasse in Schönbrunn

Max (2.von rechts) mit seiner Schulklasse in Schönbrunn mit dem Lehrer Josef Jax
Auf der Rückseite dieses Fotos sind etliche Namen von Max´ Mitschülern angeführt, allerdings kaum zu lesen


Max (rechts hinten) mit seiner Schulklasse auf einem Ausflug

Max (ganz rechts stehend) mit seiner Schulklasse bei einem Schulausflug; mit dem Hut links hinten der Direktor Oberlehrer Anton Wernett (*1880); in der Mitte ganz hinten mit Schlapphut der Klassenlehrer Josef Jax


Nach der Volksschule kam Max in eine Realschule. Dieser Schultyp ähnelte gymnasialen Ausbildungsformen, sollte ebenso der Vorbereitung auf eine akademische Laufbahn dienen und unterschied sich von diesen in der Fremdsprachenausbildung. Während in einem klassischen Gymnasium Latein und Griechisch gelehrt wurden, wurde in einem Realgymnasium nur Latein sowie eine lebende Fremdsprache unterrichtet. In der Realschule war hingegen keine der klassischen Sprachen (Latein und Griechisch) vonnöten, eine lebende Fremdsprache genügte und der Fokus lag vornehmlich auf mathematischer und naturwissenschaftlicher Bildung. Die Bedeutung dieser drei Schulformen unterschied sich von heutigen Verhältnissen insofern, als aufgrund der rigiden Aufnahmekriterien nur wenige Kinder in den Genuss einer solchen Ausbildung kamen und das Niveau demnach unvergleichlich höher anzusetzen ist als heutzutage. Dementsprechend war nach den Angaben von George Mandler als Zugangsvoraussetzung nach der Volksschule ein anspruchsvoller und offenbar sehr selektiver Aufnahmetest zu bestehen. Im Falle des Nicht-Bestehens dieses Tests konnte lediglich eine Hauptschule besucht werden.

Max Günsberg bestand diesen Test offenbar und besuchte ab 04.07.1930 die Realschule in der Josef-Gall-Gasse im zweiten Bezirk (auch Schüttel-Realschule genannt). Auch hier waren, wie schon in der Volksschule, die Mädchen- und Bubenklassen getrennt. Es gab keinen Schulsport und das Fußballspielen auf den Praterwiesen und naheliegenden Parks war die bevorzugte körperliche Betätigung der Schüler. Die Schule wurde aufgrund von Kriegsschäden 1948 aufgelöst. Heute (2024) ist in diesem Gebäude die Danube International School Vienna untergebracht.

Schüttel Realschule in der Josef Gallgasse

Schüttel Realschule in der Josef Gallgasse 2


Die Ansprüche der Realschule waren wohl doch zu hoch und so wechselte Max nach nur einem Semester bereits am 13.02.1931 wieder den Schultyp und besuchte nunmehr die Hauptschule in 1030 Wien, Hörnesgasse 12. Dass dafür seine schulischen Leistungen ausschlaggebend waren ist anzunehmen, aufgrund nicht mehr existierender Unterlagen der Realschule aber nicht mit Sicherheit verifizierbar.

Die Hauptschule, diesmal eine reine Knabenschule, stellte ihn dann offensichtlich vor keine großen Herausforderungen. Laut seinem Schülerstammblatt war er ein nicht allzu fleissiger, eher mittelmäßiger (siehe seine [Benotung]) und ruhiger Schüler, der nicht sonderlich auffiel. Interessanterweise wurde in dieser Hauptschule sogar Latein als Freifach angeboten, Max besuchte dieses Fach jedoch nur ein Semester lang.
Seine Mutter Etti Günsberg war wohl an seinem schulisches Vorankommen interessiert, konnte ihre Autorität bei ihm aber nicht immer durchsetzen (..."vielfach zu schwach dem Kinde gegenüber"...). Am 07.07.1934 erhielt er schließlich sein Schulabschluss- und Entlassungzeugnis.


[Exkurs: Max´ bester Freund Isi Streit (1920-2007) besuchte nach der Volksschule das renommierte Chajes-Gymnasium, dessen Unterlagen jedoch 1938 vernichtet wurden. Alfred Streit (1925-2024), der 5 Jahre jüngere Bruder von Isi, der Max Günsberg gut kannte und mit dem ich unerwartet 2022 noch per whatsapp Video sprechen konnte, besuchte dann später die Realschule in der Radetzkystraße. Mit Mathematik dürfte Alfred jedoch seine liebe Not gehabt haben und 1938 wurde er wie alle Juden der Schule verwiesen. Sein Name ist auf einer Gedenktafel in dieser Schule angeführt. Leider ist er 2024 99-jährig verstorben.]


Betar


Ganze jüdische Schulklassen waren damals in zionistischen Jugendbünden organisiert. Auch Max wurde als Halbwüchsiger im Mai 1933 Mitglied einer zionistischen Jugendorganisation namens Betar, laut seinem Sohn Sandro war er dort als Türsteher (Security) tätig. Das Ziel der zionistischen Organisationen war die Vorbereitung ihrer Mitglieder auf eine Auswanderung nach Palästina. Zu diesem Zweck wurden sie in hebräischer Kultur geschult, vor allem aber mit praktischen Fähigkeiten ausgestattet um die Besiedlung und Fruchtbarmachung Palästinas vorantreiben zu können.
Mitgliedsausweis Betar von Max Günsberg
Die Mitglieder des Betar wurden wegen ihres militanten Auftretens, der von ihnen durchgeführten paramilitärischen Übungen und Appelle sowie ihrer braunen Uniformen oft als "Braunhemden" und "jüdische Faschisten" bezeichnet und wurden zum erklärten Feindbild der linken zionistischen Jugendorganisationen. Die Gegnerschaft wurde vor allem in Form von Hetzliedern und Prügeleien auf offener Straße ausgetragen. Nach dem Bericht des ehemaligen Schomer-Mitglieds und Kwuza-Führers Ehud Nahir (früher Erich Nachhäuser) fanden nach 1934 regelmäßig jeden Freitag vor dem Leopoldstädter Tempel Raufereien zwischen Mitgliedern des Betar und des Haschomer Hazair statt, die zumeist erst durch das Einschreiten der berittenen Polizei aus der nahe gelegenen Wachstube beendet wurden.

Bekleidungsvorschrift Betar

Bekleidungsvorschriften des Betar


Kundgebung des Betar 1932

Kundgebung des Betar 1932


Max nahm mit hoher Wahrscheinlichkeit auch an der Massenveranstaltung des Betar am 23.10.1937 teil. Auch seine Schwester Herta Günsberg sowie sein weiter oben erwähnter Freund Isidor Streit und auch dessen Bruder Alfred Streit waren ab 1936 Mitglieder beim Betar.

Vom strengen Regiment, das bei dieser Vereinigung herrschte, zeugt auch der Ausschlussgrund "Blödheit"  

Max hatte seiner ersten Frau Ilona davon erzählt, mit seinem Vater gestritten und ein halbes Jahr nicht gesprochen zu haben. Ich vermute, dass es dabei um Max´ Bestrebungen einer Auswanderung nach Palästina ging, dies war ja schließlich der Zweck seiner Mitgliedschaft beim Betar. Aber auch als Mitglied dieser Vereinigung oder vielmehr gerade deshalb (der Betar war aufgrund der zuvor beschriebenen ideologischen Zerwürfnisse von der Zuteilung der sehr raren sogenannten Palästina-Zertifikate, die eine Emigration ermöglichen sollten, ausgeschlossen worden) blieb oft nur der Versuch einer illegalen Auswanderung, der lediglich einer Handvoll Wiener Jugendlicher auch gelang. Sein Vater Setyk, der ja gerade erst (1933) das ersehnte Heimatrecht in Wien verliehen bekommen hatte und endlich auch von Amts wegen Österreicher geworden war, konnte aber wie zahlreiche andere jüdische Eltern mit den Hirngespinsten seines Sohnes garantiert überhaupt nichts anfangen. Wie beispielsweise der legendäre ehemalige Bürgermeister von Jerusalem Teddy Kollek (1911-2007), der in Wien ähnliches wie Max erlebte, in seiner Autobiographie beschrieb oder auch der als Leiter der Jugend-Alijah tätige Georg Überall (1917-1980) meinte:
„Tatsächlich kam der große Widerstand von den jüdischen Eltern. Wir wollten ja ihre Kinder aus dem bürgerlichen Leben dieser Familien herausreissen, damit sie nach Palästina gehen, dort Pionierarbeit leisten und Mitglied eines Kibbuz werden. ‚Mein Sohn, der Herr Doktor‘, war die traditionelle Idealvorstellung dieser Kreise. So fiel es uns bitter schwer, jene Eltern, die die Zeichen an der Wand nicht sehen wollten, zu überzeugen. Die Kinder waren sowieso auf unserer Seite."

Berufsausbildung


Nachdem die Schule absolviert war, hatte Max´ Vater Setyk Günsberg für seinen Sohn offenbar eine Ausbildung im Fleischergewerbe vorgesehen. Wahrscheinlich begann Max auch tatsächlich mit Hilfstätigkeiten an Setyks Arbeitsplatz, da für die Zeit von Juli 1934 bis Mai 1935 keine andere Betätigung nachweisbar ist und Max später angab, seinem Vater einige Zeit geholfen zu haben.


Das Fleischerhandwerk war aber ganz offensichtlich nicht Max´ Bestimmung. Also besorgte Setyk seinem Sohn stattdessen eine Lehrstelle beim berühmten Kleiderhaus Jacob Rothberger im ersten Wiener Gemeindebezirk am Stephansplatz 9 und unterzeichnete den Lehrvertrag mit dem Enkel und Namensvetter des legendären Firmengründers Jacob Rothberger am 04.06.1935. Die prominente Adresse des Warenhauses Rothberger lässt sich an einer Äußerung von Ludwig Hirschfeld im 1927 erschienenen Wien-Band der Reihe „Was nicht im ‚Baedeker‘ steht" ablesen: "Wo ist der Stephansdom? Na, gegenüber vom Rothberger!". Der Rothberger ist doch überhaupt ein Begriff, nach dem sich der Fremde direkt orientieren kann". Also verortete man nicht das Warenhaus beim Stephansdom sondern umgekehrt. Das Kaufhaus Rothberger wurde 1861 gegründet und war das erste in Wien mit einer "Kleiderschwemme", die es der Kundschaft ermöglichte, neue Waren billiger zu kaufen, wenn sie alte Kleidungsstücke zurückgaben.

Seinen eigenen Angaben zufolge war Max dort als Stoffmanipulant sowie im Ein- und Verkauf beschäftigt. Neben der Lehrlingstätigkeit besuchte Max eine von ihm nicht näher spezifizierte Fortbildungsschule.

Warenhaus Rothberger, Stephansplatz 9 während einer Fronleichnamsprozession mit Kaiser Franz Joseph

Hobbies


Max erzählte seinem  Sohn Sandro von fußballerischen Glanztaten als Tormann. Laut Auskunft von Isis Bruder Alfred Streit jedoch nicht in einer regulären Mannschaft, sondern bei vielen Gelegenheiten auf der Praterwiese oder auch in einem der umliegenden Parks. Isis fünf Jahre jüngerer Bruder Alfred spielte fallweise auch mit Isi und Max, falls zuwenige Gleichaltrige aufzutreiben waren.

Sein Sohn Sandro meinte sich hingegen zu erinnern, dass Max die Wiener Austria als seinen Club erwähnt hätte. Eine Recherche in den Archiven dieses Clubs förderte jedoch keinen Spieler Günsberg als Mitglied einer Austria-Kampfmannschaft zutage. Da er dies jedoch gegenüber Sandro wiederholt betonte, kann sich das möglicherweise auf einen Jugendkader beziehen, darüber sind in den Austria-Archiven jedoch keine Unterlagen erhalten. Dennoch ist die Erwähnung des Fussballclubs Austria Wien naheliegend, war dieser Club in der Zwischenkriegszeit, also in Max Günsbergs Jugendtagen, doch DER Verein der assimilierten Wiener Juden. Zum Zeitpunkt des "Anschlusses" im März 1938 bestand die Kampfmannschaft zur Hälfte aus Juden und das Management war fast ausschließlich jüdisch besetzt.

In der Zeitung Sport-Tagblatt vom 10.03.1934 ist allerdings die Einberufung eines Spielers Günsberg an erster Stelle (und Max war ja Tormann, also Nummer 1) für die kleine ehemalige Wiener Mannschaft Fair-Unitas zu finden.

Auch im Sport-Tagblatt in der Ausgabe vom 25.09.1937 erscheint der Name Günsberg bei einer Einberufung für das Team von Hasmonea Makkabi, einer ehemaligen jüdischen Amateur-Mannschaft, für ein Spiel auf dem Hakoah-Platz im Wiener Prater. Ironischerweise feierte der JSV Hasmonea-Makkabi Anfang Jänner 1938 ein großes Jubiläumsfest im Hotel Métropole am Morzinplatz, dort, wo sich nur ein paar Monate später nach der nationalsozialistischen Machtergreifung die Wiener Gestapo Zentrale befinden sollte. 


Die große Welt der Oper war jedoch Max` größte Passion. Aus persönlicher Erinnerung sind mir seine hingebungsvollen Badewannenarien mit nach meiner damaligen kindlichen Einschätzung beachtenswertem und kräftigem Tenor eindrücklich. Auch erzählte er von höchst aufregenden Begegnungen mit vielen Film- und Opernstars und dass er früher jede freie Minute in der Wiener Staatsoper verbracht hätte. Seine zahlreichen und allesamt von den größten Stars der damaligen Zeit signierten Autogrammkarten sprechen davon eine eindeutige Sprache. Diese Karten müssen ihm viel wert gewesen sein – unter den wenigen persönlichen Dingen, die er auf seiner Flucht 1938 mitnehmen konnte, waren sie dabei. Eine Filmschauspielerin hatte es ihm ganz besonders angetan: Käthe von Nagý musste ihm etliche Fotos signieren – der Mann hatte Geschmack.
Käthe von Nagy

Am 18.05.1936 zog die Familie in eine neue Bleibe nicht weit von der alten, ebenfalls im dritten Bezirk, in der Löwengasse 2/6.

Familienleben


Die untenstehende Aufnahme entstand 1937 im Hof des Stiftes Heiligenkreuz (ca. 30km südwestlich von Wien). Sie zeugt vom starken Verband der Familien Günsberg und Engler. Mangels Vergleichsmöglichkeiten dürften nicht alle Zuordnungen korrekt sein, das meiste sollte aber stimmen.

Familien Günsberg, Krumholz, Singer und Engler


So sähe das Familientreffen heutzutage (2021) und in Farbe aus:


1938


Nachdem im März 1938 die unheilvolle Entwicklung jener Tage ihren Lauf nahm, füllte Max am 18.05.1938 einen Auswanderungsfragebogen aus, in dem er statt Verwandten im Ausland seinen besten und langjährigen Freund Isi Streit (*1920), der bereits 1936 mit seinem Vater Jacob nach Südafrika emigriert war, angab.

[Exkurs Familie Streit: Isis Mutter und sein Bruder Alfred sollten dann 1940 nach Südafrika nachfolgen. Isi änderte seinen Namen in Leon Street, gründete eine Familie mit zwei Töchtern und einem Sohn und lebte abwechselnd in Israel und Florida. Er starb 2007, seine Kinder leben nach wie vor in den USA/Israel. Sein 1925 geborener jüngerer Bruder Alfred heisst nunmehr Fred Street, übersiedelte 1980 nach Sydney und hat zwei Töchter samt Familien inclusive neun Enkeln. Er ist nach wie vor (2022) "sharp as a tack" (© Cathy Bettman) und es ist ein Vergnügen mit ihm zu telefonieren. Trotzdem er seit 1940 praktisch nie mehr Gelegenheit dazu hatte, spricht er hervorragend und akzentfrei deutsch. Er erinnert sich gut an Max Günsberg und hat ihn sehr gut und freundlich in Erinnerung. Auch im hohen Alter hatte er seinen Sinn für Humor nicht verloren: Auf meine Bemerkung, dass er für mich wie ein Fenster in die Vergangenheit sei, erwiderte er "Ich hatte in meinem Leben schon viele Namen. Als Fenster hat mich jedoch noch nie jemand bezeichnet."
Der Kontakt mit Alfred Streit/Street im Jahr 2022 war für mich (Gerhard Günsberg) ein absoluter Haupttreffer, da weder mein Bruder Sandro noch meine Mutter oder ich jemals jemandem kennenlernen durften, der Max Günsberg in seiner Kindheit/Jugend persönlich kannte. Und so viele Jahre nach Max´ Tod hätte ich keinesfalls mehr damit gerechnet.
]

Nachtrag: Am 26.08.2024 verstarb Fred Street 99-jährig.


Am 03.06.1938 wurde Max nach Abschluss seiner Lehre noch als Lagerist übernommen, jedoch bereits am 16.07.1938 wie auch alle anderen jüdischen Angestellten entlassen. Dass man sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorstellen konnte, dass der nationalsozialistische Spuk für längere Zeit andauern sollte, kann man aus Max´ Dienstzeugnis entnehmen: es wurde ein offzielles Zeugnis erstellt, in dem aus verständlichen Gründen nicht auf die wahren Gründe seiner Entlassung hingewiesen wurde.

Er erhielt aber auch ein "inoffizielles" Exemplar, in dem sehr wohl auf die ..."durch den Umbruch bedingten Umstände"... hingewiesen wurde, um ihm eine spätere Jobsuche zu erleichtern.

Zeugnis der Firma Rothberger für Max
Max verdiente zum Zeitpunkt seiner Entlassung im Juli 1938 62,40 Reichsmark monatlich. Dies entspricht einem heutigen (2021) Wert von ca. EUR 370,00. Dass er noch von März bis Juli 1938 seinen Job behalten konnte, lag wahrscheinlich an der Lehrlings/Geselleneigenschaft. Aus leitenden Positionen wurden Juden praktisch umgehend (innerhalb von Tagen) nach dem „Anschluss“ am 12.März ´38 verjagt, wie sich aus dem Schicksal anderer Familienmitglieder ableiten lässt.

Max erzählte Sandro, dass er bei der Schätzung des Warenlagers seines Arbeitgebers Rothberger als einziger und letzter jüdischer Zeuge noch anwesend war. Die entsprechende Inventur zum Zweck der „Arisierung“ unter Aufsicht des kommissarischen Verwalters Wieland Lenz erfolgte am 31.07.1938, die Abwertung der Inventur wurde anschließend von „Schätzmeister“ Josef Hermann (dieser war schon als kommissarischer Verwalter des Kaufhauses „Gerngross“ eingesetzt gewesen) und mit Hilfe des „Fachmannes“ Josef Szetterle vorgenommen. Die Anwesenheit von Max geht aus den Archiv-Unterlagen nicht hervor.


Spätestens im Juli 1938 reifte wohl der Entschluss Österreich zu verlassen. Am 26.07.1938 wurde ihm der Wiener Heimatschein ausgestellt, mit dem er sich im Ausland legitimieren konnte.

Am 15.08.1938 emigrierte Max Günsberg schließlich in die Schweiz.