Max Günsberg


Flucht aus Wien


12. März 1938: Hitler in Wien, Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland. Und buchstäblich über Nacht präsentierten sich die bis dahin in Österreich verbotenen Nationalsozialisten in voller rassistischer Pracht, wurde das Leben für Juden in Wien zuerst zur Tortur und schon bald zum Todeskampf.
Nachdem Max´ Pläne bezüglich einer Ausreise nach Palästina (Betar, Palästina-Zertifikate, siehe Max´ Jugendjahre in Wien) in den Jahren zuvor im Sande verlaufen waren, war die Emigration in die Schweiz wohl seine einzige und letzte Chance zur Flucht. Denn fast alle Staaten weltweit zeigten keinerlei Aufnahmebereitschaft für auswanderungswillige Juden. Ob die Vereinigten Statten von Amerika, England oder die Schweiz - getragen von einem Klima des Antisemitismus, der ja an der deutschen Grenze nicht Halt machte, und einer irrationalen Angst vor Überfremdung blieben die Grenzen für die allermeisten Juden geschlossen (siehe auch die Konferenz von Évian). Dies übrigens auch in den Folgejahren, als längst Berichte über die Greuel des Holocaust nach außen gedrungen waren. 

Die Schweiz hatte schon seit 1921 ein sehr rigides Einwanderungsmanagement betrieben, das sie jetzt, 1938, konsequent fortführte. So galten politisch Verfolgte zwar prinzipiell als schutz- und asylwürdig, Kommunisten hingegen wurden als staatsgefährdend angesehen und ihnen die legale Einreise verweigert (die kommunistische Partei der Schweiz wurde 1940 verboten). Und auch "rassische" Gründe wurden nicht als politisch und Juden daher nicht als asylwürdig anerkannt, eine legale Einreise war somit ebenfalls nicht möglich. Insgesamt nahm die Schweiz von 1933-1945 nur knapp 10.000 jüdische Emigranten auf, die es gezwungenermaßen großteils auf illegalem Weg geschafft hatten, die Schweizer Grenze zu überwinden.  


Im August 1938 bestieg Max jedenfalls einen Zug nach Hohenems um die gefährliche Fahrt durch ein ihm plötzlich fast zur Gänze feindlich gesinntes HEIMAT-Land und die Überquerung der Schweizer Grenze zu versuchen. Und mit der Hilfe des mittlerweile legendären eidgenössischen Polizeihauptmannes Paul Grüninger sollte dieses Vorhaben auch gelingen. Grüninger wurde 1939 aufgrund seiner "Verfehlungen" vom Dienst suspendiert und sämtlicher Pensionsansprüche verlustig erklärt. Er lebte danach ein einfaches, nach seinen eigenen Erzählungen jedoch zufriedenes Leben in relativer Armut und starb 1972. Erst 1993 wurde er von der Schweiz politisch und 1995 schließlich auch juristisch rehabilitiert. 1971, kurz vor seinem Tod, sollte ihm die Ehrung durch Yad Vashem als "Gerechter unter den Völkern" zuteil werden.   

Von Max existiert darüber kein Bericht. Ein Leidensgenosse, der Wiener Emigrant Kurt Bettelheim schilderte die Situation in Hohenems am 13. August 1938, also nur zwei Tage vor Max´ Grenzübertritt:

 „Zu diesem Zeitpunkt verhielt sich die dortige SS noch relativ human, da die Massenvernichtung noch nicht auf ihrem Programm stand und sie somit zufrieden waren, die unliebsamen Bürger nach dem Ausland abzuschieben. Konkret sah das so aus, dass man uns schon bei der Ankunft am Bahnhof Hohenems sammelt und bis zum Einbruch der Nacht in einem Gasthaus sammelte, In der Dunkelheit brachte uns dann diese SS über einen kleinen Steg auf Schweizer Boden, wo wir auch sofort von der dortigen Grenzwache eingesammelt wurden, Zu dieser Zeit war die Schweizer Grenze für Flüchtlinge noch offen [...]“

Max Günsberg links mit Rucksack, auf dem Weg zur Grenze


Grenzposten zwischen Hohenems und Diepoldsau


Die entsprechende Situation auf Schweizer Boden stellte sich dann so dar (Auszug aus "Flüchtiges Glück" von Jörg Krummenacher, 2005):

"Anfang August beauftragte Paul Grüninger den Landjäger Ernst Kamm, ein Sammellager einzurichten. Dieser fand eine leerstehende ehemalige Schiffstickerei [eine Fabrik für Stickereiwaren mit Werkzeugen, die ähnlich wie „Weberschiffchen“ funktionieren; 2005 befand sich in diesem Gebäude eine Fabrik der Firma Grabherr], die Platz für 300 Personen bot, zusätzlich konnte er am 25. August ein ebenfalls nicht mehr genutztes Sektionsgebäude.der Rheinbauleitung im Ortsteil Schmitter mieten, in dem er ein Krankenzimmer sowie die Unterkunft für verheiratete Paare und Emigrantinnen einrichtete. Als offizielle Mieterin trat aber nicht das Polizeikommando, sondern die Israelitische Flüchtlingshilfe auf, die auch hier die Kosten zu tragen hatte. „Dank dem Schweizervolk!“ stand etwas widersprüchlich auf einem Schild, das Kamm an der Fassade der umgenutzten Stickereifabrik anbringen ließ.

Im Lauf der ersten Augusttage konnten die eintreffenden Flüchtlinge das Lager beziehen, wo sie vorübergehend untergebracht, vom Roten Kreuz betreut und anschließend nach St. Gallen zu Sidney Dreifuss [Leiter der jüdischen Flüchtlingshilfe St. Gallen] geschickt wurden. Das Sammellager war knapp anderthalb Kilometer vom Zollübergang entfernt; zwischendrin befand sich das Restaurant Alpenblick, wo die Flüchtlinge verpflegt wurden. Bald erhielt das Sträßchen, das vom Restaurant zum Lager führte und das heute Wiegenstraße heisst, von den Leuten im Dorf einen besonderen Namen: Judengässlein..."  


Am 10. August sandte Heinrich Rothmund [Jurist und Chef der eidgenössischen Fremdenpolizei von 1919 bis 1955, der als berüchtigtes Bollwerk gegen Überfremdung in die Schweizer Geschichte eingegangen ist] ein Kreisschreiben an die Schweizer Grenzstellen, in dem er die Rückweisung von eintreffenden Personen anordnete, die einen österreichischen Pass, aber kein Visum hätten. Einzig die Flüchtlinge, die sich bereits auf Schweizer Gebiet befanden, sollten von den kantonalen Behörden vorübergehend aufgenommen werden. Das Ergebnis der Bemühungen war aus der Sicht Rothmunds wenig ergiebig: Der Flüchtlingsstrom nahm weiter zu. Allein für den 15. August sind 63 illegale Einreisen registriert, zum überwiegenden Teil bei Diepoldsau.[da war Max Günsberg dabei] Dort wurden die Flüchtlinge nun aber nicht mehr mit offenen Armen empfangen, sondern verhaftet und ans deutsch österreichische Zollamt zurückgestellt. Der Zollkreis III zählte im August 198 Verhaftungen und 238 Zurückweisungen. Allein: Die Deutschen weigerten sich, sie wieder ins Land zu lassen.
Rothmund intervenierte deshalb beim deutschen Gesandten in Bern und beim Auswärtigen Amt in Berlin und verlangte, dass die deutschen Grenzorgane ihre aktive Mithilfe bei der Ausreise unterlassen sollten. Zudem erinnerte er daran, dass ihre Weigerung, die einmal Ausgereisten wieder zurückzunehmen, dem schweizerisch-deutschen Niederlassungsvertrag widerspreche. Jetzt hatte Rothmund Erfolg: Reichsführer SS Heinrich Himmler wies die deutschen Grenzorgane an, auf jegliche Mithilfe bei der Ausreise von Juden zu verzichten und bereits Ausgereiste wieder zurückzunehmen.
„Wer, wie ich, wiederholt Gelegenheit hatte“, schrieb Paul Grüninger später, „die sich dabei ergebenden Unzukömmlichkeiten, die traurigen, herzzerbrechenden Auftritte, das Zusammenbrechen der Betroffenen, das Jammern und Schreien von Müttern und Kindern, die Selbstmord-Androhungen und Versuche dazu, mitanzusehen, der konnte schließlich einfach nicht mehr mittun.“
Denn bereits zu diesem Zeitpunkt war den Behörden bewusst, was Rückweisung bedeutete: Ungewissheit, Terror, Konzentrationslager. „Noch wusste man nichts von den Todeslagern für Juden, aber man ahnte schon Furchtbares“, notierte Zolleinnehmer Leonhard Grassli.
Die Polizeidirektorenkonferenz stellte in einer gemeinsamen Erklärung fest, dass die Schweiz nicht in der Lage sei, „neue Flüchtlinge in erheblicher Zahl“ aufzunehmen. Die bisher aus Österreich vertriebenen, fast ausschließlich jüdischen Flüchtlinge würden aber zum vorübergehenden, erwerbslosen Aufenthalt in der Schweiz geduldet. Trotzdem gelang am 18. August noch 35 Flüchtlingen die illegale Einreise. Doch am 19. August war Diepoldsau dicht." 


In der Nacht vom 15. auf den 16.08.1938 gelang Max also der illegale Grenzübertritt über den alten Rhein bei Diepoldsau, irgendwo unweit vom offiziellen Grenzübergang. Das ist übrigens nicht bei der großen Rheinbrücke, die den 1923 künstlich geschaffenen schnurgeraden Alpenrhein überspannt, sondern über das unscheinbare Bächlein der natürlichen Rheinschlinge, manchmal kaum ein Meter breit.    

Der alte Rhein beim Waibelloch

Der alte Rhein beim Waibelloch


Nachdem Max Günsberg unter Mithilfe des Polizeihauptmannes Paul Grüninger an der Grenze zumindest nicht abgewiesen worden war, wurde er wie alle anderen jüdischen Flüchtlinge nach St. Gallen zum Leiter der jüdischen Flüchtlingshilfe, dem Textilkaufmann Sydney Dreifuss (Vater der nachmaligen Bundesrätin und ersten Schweizer Bundespräsidentin Ruth Dreifuss), geschickt, der die Aufnahme in das Hilfsprogramm abwickelte. Die Flüchtlingshilfe war erst 1938 von der israelitischen Kultusgemeinde St. Gallen gegründet worden. Im unterhalb abgebildeten Büro in St. Gallen, Teufenerstraße 10, musste also auch Max Günsberg beim hier ebenfalls abgebildeten Sydney Dreifuss vorsprechen (Foto von 1938, Privatsammlung Dreifuss):

Sydney Dreifuss in seinem Büro in St. Gallen

Über 10 Jahre lang, bis 1949, sollte Max Günsberg nun in der Schweiz bleiben.

  • Knapp 2 Jahre lang war Max zu Beginn im [Auffanglager Diepoldsau]. Jede Erwerbs- oder Arbeitstätigkeit war den Flüchtlingen dort verboten, dafür konnten diverse Schulungen absolviert werden.
  • Insgesamt ca. 2,5 Jahre verbrachte er in in Arbeitslagern, zuerst im [Arbeitslager Felsberg] in Graubünden und dann im [Sonderlager Locarmo] im Tessin. Dort war er bei verschiedenen Bauprojekten wie Dammbau und Urbarmachung sowie zur Erntearbeit eingesetzt.
  • Etwa 1,5 Jahre lang absolvierte er eine Herrenschneiderlehre im [Umschulungslager Zürichhorn] in Zürich.
  • Knapp 3 Jahre musste er in der [Heilanstalt Etania] in Davos zur Rekonvaleszenz nach einer TBC-Erkrankung verbringen.
  • Abschließend folgten noch knapp 2 Jahre [Aufenthalt in Zürich], wo er versuchte, sich eine bescheidene Existenz aufzubauen.


Bei allem Ungemach, das Max während seines Exils erlebte – danke liebe Schweiz, ohne Dich gäbe es den Verfasser dieser Zeilen und die mittlerweile vielen anderen Günsbergs nämlich gar nicht.