Max Günsberg ist auf dem obenstehenden Foto durch einen grünen Kreis gekennzeichnet
Max Günsberg im Schlafsaal des Lagers Diepoldsau
Auf diesem Foto ist Max Günsberg auf der linken Seite stehend zu sehen
Max Günsberg sitzend als dritter von rechts
Am 14.11.1938 erhielt Max Günsberg einen Brief von seiner Schwester Herta, in dem sie angab, seine Schul- und sonstigen Unterlagen vernichtet zu haben, wahrscheinlich um im Eindruck der erst unmittelbar zuvor erfolgten berüchtigten Reichs-Pogrom-Nacht (09.November 1938) alle Spuren und Hinweise auf seinen aktuellen Aufenthaltsort zu verwischen. In diesem Brief übermittelte sie ihm zusätzlich die Adresse seines besten Freundes aus Kindertagen, Isi Streit in Südafrika (siehe Max Jugendjahre in Wien), und forderte ihn auf ihm zu schreiben.
Lieber Maxi! Ich habe Dir einen sehr wichtigen Nachsatz zu schreiben wir sind jetzt eben dabei Deinen Kasten auszuräumen ich zerreisse jedes Stück sowie Deine alten Schulhefte von der Lehranstalt und zwischen den Heften und Blättern ich habe gerade ein Blatt zerrissen und da sehe ich eine [Anschrift] eines Briefes an Dich gerichtet ich war neugierig und sah die Adresse ich legte sofort die einzelnen Teile des Briefes [zusammen] und fand heraus [dass] es ein Brief von Isi Streit war ich schrieb sofort die Adresse ab und sogleich erfuhr ich [dass] der Brief den wir Dir geschrieben haben noch nicht abgegangen ist also ich hoffe Du schreibst an den Isi sofort ich hoffe er hat seinen alten Freund noch nicht vergessen. Es küsst Dich Deine Schwester Herta
Zu dieser Zeit gab es noch regen Schriftwechsel zwischen Max und seiner Familie, wovon auch dieses Brief-Fragment aus dem Zeitraum 1939/40 zeugt, in dem Max Günsbergs Mutter Etti innige Grüße und Küsse sendete. Ebenfalls gegrüßt wurde er in diesem Schreiben von Ettis Mutter, also seiner Großmutter Pessi Engler-Singer, die zu dieser Zeit bereits im Altersheim in der Seegasse untergebracht war, sowie von Ettis Bruder und damit seinem Onkel David Singer, der nach wie vor mit seiner Familie in der winzigen Wohnung in der Radetzkystraße 10/5 lebte.
Am 17.11.1938 wurde Max ein Emigrantenausweis ausgestellt, damit war er erstmal auf Schweizer Boden registriert.
Um die Zeit im Lager nicht ungenützt verstreichen zu lassen, absolvierte er Umschulungskurse zum Schuster und Automechaniker. Am 16.12.1938 erhielt er aus Wien das Leumundszeugnis der israelitischen Kultusgemeinde. Am 31.01.1939 stellte ihm das deutsche Konsulat in St. Gallen einen Flüchtlings-Pass aus. Am 08.03.1939 wurde endlich ein offizielles Gesuch um Aufenthaltsbewilligung gestellt, auf dem eine Anmeldung zu einem Palästina-Transport aufscheint. Das ist gut nachvollziehbar, hatte er doch bereits in Wien im Rahmen des Betar eine solche Ausreise angestrebt. Durch das Auffliegen der illegalen Visa-Aktivitäten des Fluchthelfers Ernest Prodolliet kam dieser Transport aber nicht zustande.
Am 21.03.1939 gab es dann die Bestätigung der nach wie vor provisorischen Aufenthaltsbewilligung, jetzt musste er sich endlich keine unmittelbaren Sorgen wegen einer Rückweisung mehr machen. Allerdings musste bis zum Ende seiner Schweizer Emigration im Jahr 1949 alle sechs Monate ein neues Gesuch gestellt werden mit der Angabe der Bemühungen um eine Ausreise und bis März 1947 auch mit einem strikten Erwerbsverbot (die Schweiz sah sich ja weiterhin lediglich als Transitland und war aufgrund der irrationalen Angst vor "Überfremdung" nicht bereit Flüchtlinge aufzunehmen). Die entsprechenden Einträge finden sich in seinem Ausländerausweis.
Und sehr eifrige Bemühungen um eine Ausreise gab es tatsächlich:
Am 23.03.1939 wurde ihm erstmals Urlaub und eine Polizeifahrkarte bewilligt, um letztlich erfolglos im Konsulat der USA in Zürich ein Visum zu beantragen. Desgleichen gab es am 05.05.1939 Urlaub, um, natürlich ebenfalls erfolglos, ein Visum bei der Botschaft von Guatemala zu beantragen. Diese Bemühungen, die Max Günsberg mit fünf ebenfalls aus Wien geflüchteten Kollegen gemeinsam unternahm, wurden durch die HICEM (Zusammenschluss von HIAS = Hebrew Immigrant Aid Society, ICA und EMIGDIRECT = Emigrationsdirectorium) unterstützt.
Die folgenden fünf Flüchtlingskollegen schlossen sich für den Versuch einer Ausreise mit Max zusammen und unterfetigten ihre etwas weiter unten angeführten Ansuchen immer gemeinsam:
Manes Wilder (*03.10.1912 in Lemberg) war am selben Tag wie wie Max Günsberg, am 15.08.1938 aus Wien kommend über die Schweizer Grenze geflüchtet. Bei dieser Gelegenheit oder aber bereits bei der Fahrt von Wien nach Vorarlberg dürften sich Max und die Wilder-Brüder, die mit ihrer Familie erst 1924 von Galizien nach Wien gekommen waren, kennengelernt haben. Manes Wilder arbeitete bis 1950 in St. Gallen bei Familie Dreifuss (Sydney Dreifuss war der Leiter der jüdischen Flüchtlingshilfe St. Gallen und Vater der nachmaligen Bundesrätin und ersten Schweizer Bundespräsidentin Ruth Dreifuss) und emigrierte 1950 von der Schweiz in die USA. Er starb in Chicago 1999.
Manes Wilder 1939
Manes Wilder mit seiner Enkelin Julia Wenzlaff (Facebook-Fund)
Nathan und Manes Wilder (Facebook-Fund)
Nathan Wilder 1939
Eduard Sommer (*16.01.1909 in Bisenz/Mähren) war als Kind mit seiner Familie nach Wien gekommen und gelernter Damenschneider. Er flüchtete mit seinem Bruder Norbert am 03.12.1938 in die Schweiz, wo er im Flüchtlingslager Diepoldsau Max Günsberg kennenlernte. Im Jahr 1941 ergriffen er und sein Bruder Norbert die Chance, in die dominikanische Republik auszureisen. Die Dom. Republik war nach der berühmt-berüchtigten Konferenz von Evian im Jahr 1938 einer der ganz wenigen Staaten, die tatsächlich bereit waren jüdische Flüchtlinge aus Deutschland aufzunehmen. Diktator Trujillo, der als Armeegeneral die demokratische Regierung 1930 gestürzt hatte und mit harter Hand regierte, handelte dabei keineswegs aus Menschenliebe. Der bekennende Rassist erhoffte sich vielmehr eine "Aufweissung" der vornehmlich farbigen Bevölkerung sowie Dankbarkeit und Unterstützung reicher und einflussreicher amerikanischer Juden. Außerdem ließ er sich die Einreisebewilligungen gut entlohnen. Eine der Auflagen Trujillos war, dass vor allem alleinstehende Männer mit handwerklicher Ausbildung aufgenommen werden sollten, die das Land kolonisieren und bestellen würden. Die Sommer-Brüder passten also gut ins Bild.
Am 08.05.1941 schifften sich Eduard Sommer und sein Bruder Norbert mit einer aus insgesamt 16 Emigranten bestehenden Gruppe in Barcelona ein und kamen nach einem Zwischenstopp in New York endlich am 15.06.1941 in Puerto Plata an. Dort siedelten sie sich wie alle anderen jüdischen Emigranten auf einem neuen Siedlungsgebiet in Sosúa an, einer ehemaligen Bananenplantage. Aus dieser Siedlung sollte in der Folge das erste Kibbuz der Karibik werden.
Statt den von Trujillo erhofften 100.000 Juden siedelten sich letztlich nur etwa 600 in der Dominikanischen Republik an. Und auch von diesen emigrierte der Großteil in den 1950er Jahren, meist in die USA. Heute besteht lediglich eine kleine jüdische Gemeinde in der Dominikanischen Republik.
Eduard Sommer war jedoch kein langes Leben vergönnt. Er starb bereits am 21.06.1943 in Sosúa an einem Herzleiden.
Eduard Sommer im Jahr 1941
Norbert Sommer im Jahr 1946
Norbert Sommer (26.09.1910 in Bisenz/Mähren) war ebenso wie sein Bruder Eduard als Kind nach Wien gekommen und bis 1938 als Metallarbeiter beschäftigt. Er durchlebte mit seinem Bruder dieselbe Fluchtgeschichte. Nach seines Bruders Tod heiratete er in Sosúa am 24.12.1945 Irma Spitz. Im Jahr 1952 wanderte das Paar nach Texas aus. Dort starb Norbert Sommer am 28.09.1987.
Im Aufenthaltsraum des Lager Diepoldsau im März 1939. Max Günsberg ist auf dem Foto ganz rechts abgebildet. Offenbar dürfte er zu diesem Zeitpunkt keinen Schnauzbart getragen haben. Foto aus dem Archiv des jüdischen Museum Hohenems.
Reger Schriftwechsel zwischen Max Günsberg, der HICEM und dem VSIA drehten sich um die Fahrtspesen und diverse Bewilligungen. Auch einen Lebenslauf hatte Max Günsberg zu verfassen. Max war augenscheinlich am besten für die Formulierung der entsprechenden Ansuchen geeignet, so dass er stellvertretend für seine Freunde ein Ansuchen am 15.06.1939 und ein weiteres am 20.06.1939 verfasste. Einerseits waren er und Alois Klein diejenigen, die in Wien geboren und deutscher Muttersprache waren, andererseits dürfte auch seine schulische Ausbildung nicht die schlechteste gewesen sein, obwohl er in Wien lediglich die Hauptschule absolviert hatte.
Angesichts seiner Handschrift, die ich immer bewundert habe, kann ich seine nur durchschnittliche Benotung in der Schule im Fach Schreiben nicht nachvollziehen.
Am 23.05.1939 gab es erneut Urlaub um am Konsulat von Guatemala in Zürich die notwendigen Schritte zu setzen. Am 06.07.1939 zerschlug sich jedoch die Hoffnung auf ein neues Leben in Übersee, da zum einen die HICEM aufgrund fehlender Erfolgsaussichten die Finanzierung verweigerte und zum anderen, da die Organisation des Unternehmens durch einen zwielichtigen Konsul erfolgt war (Max führte dies 1941 in einem Schreiben aus).
Erst am 08.08.1939 gab es eine Vorladung zum Konsulat der USA. Am 10.08.1939 scheint ein Gesuch um ein Rückreisevisum in die Schweiz auf; dieses wäre Voraussetzung für den Erhalt eines französischen Visums gewesen. Ebenfalls am 10.08.1939 gab es nochmals einen bewilligten Urlaubstag für das amerikanische Visum, und am 11.08.1939 die Abfahrt nach Zürich mit Frist bis 12.08.1939. Als er am 14.08.1939 immer noch nicht wieder im Lager Diepoldsau eingetroffen war, verfasste der Landjäger Ernst Kamm (derselbe Ernst Kamm, der von Grüninger den Auftrag erhielt, das Lager einzurichten) eine Sachverhaltsdarstellung an die Polizei. Auf dieser ist nachträglich handschriftlich das Eintreffen von Max in Diepoldsau am 15.08.1939 eingetragen. Seine Papiere (Pass und Flüchtlingsausweis) waren ihm zuvor von der Fremdenpolizei abgenommen und er angewiesen worden, nach Diepoldsau zurückzukehren. Möglicherweise war der Grund für Max Günsbergs unerlaubt verlängerte Abwesenheit ein Besuch bei seinen geliebten minderjährigen Schwestern Herta und Rita, die zur selben Zeit einen Erholungsurlaub in einem Kinderheim, dem "Wartheim" in Heiden im Schweizer Kanton St.Gallen und damit in relativer Nähe von Diepoldsau verbrachten, danach jedoch leider wieder zurück nach Wien mussten.
Am 18.08.1939 erfolgte die Zusendung von Pass und Flüchtlingsausweis an Ernst Kamm.
Am 01.09.1939 überfiel die deutsche Wehrmacht Polen und entfachte damit endgültig einen Weltenbrand, sämtliche Ausreisebestrebungen wurden nun noch hoffnungsloser als zuvor. Abgesehen von seinen Bemühungen um eine Ausbildung oder eine Weiterreise in ein aufnahmebereites Land versuchte Max sich auch aktiv am Widerstand gegen die NS-Aggression zu beteiligen. Kurz nach der Ankündigung zur Gründung einer „österreichischen Legion“ im September 1939 in Frankreich meldete er sich zum Beitritt. Diese Gruppierung wurde jedoch vom offiziellen Frankreich nicht anerkannt und war mit der Niederlage Frankreichs 1940 ohnehin obsolet.
Auffallend in diesem Zusammenhang erscheint die gleichlautende Namensgebung mit der in Deutschland einige Jahre zuvor entstandenen und dort (in Deutschland) auch anerkannten „österreichischen Legion“ österreichischer Nazis in der Zeit der Illegalität (illegal waren die Nazis NUR in Österreich von 1934 bis 1938; in Deutschland waren sie unter Reichskanzler Adolf Hitler ja bereits seit 1933 an der Macht).
Offenbar wurden die Exilanten vehement gedrängt sich um eine Weiterreise in ein aufnahmebereites Land zu kümmern. Die Schweiz beharrte hartnäckig auf ihrem Transitland-Status. Also musste Max seine intensiven Bemühungen in einem Schreiben vom März 1940 zum wiederholten Mal nachweisen.
Schweizer Behörden sahen sich nun mit dem Problem konfrontiert, dass die bereits im Land befindlichen Flüchtlinge einerseits versorgt werden mussten, andererseits jedoch nach wie vor keiner wie immer gearteten Arbeit nachgehen durften. Dies war insofern kontraproduktiv, als die meisten Schweizer Männer angesichts des bedrohlichen deutschen Nachbarn zum Wehrdienst verpflichtet wurden und daher im Straßenbau ebenso wie bei der Erntearbeit fehlten.
Also wurden die rigiden Erwerbsbestimmungen für Flüchtlinge insofern gelockert, als Arbeitslager eingerichtet wurden, in denen diese Flüchtlinge gemeinnützige Arbeit gegen einen sehr geringen Verdienst verrichten durften/mussten. Für die Tätigkeit in Arbeitslagern wurde grundsätzlich ein Sold von SFR 1,00 bis 1,80 pro Tag, je nach Leistung, bezahlt. Davon wurden noch 50 Rappen für ein Urlaubs- und 25 Rappen für ein Sparguthaben abgezogen.
Nachdem am 16.05.1940 eine ärztliche Überprüfung seine Tauglichkeit für den Arbeitsdienst ergeben hatte, erhielt Max am 18.05.1940 seinen Einweisungsbescheid für ein Arbeitslager. Am 22.05.1940 ging es dann in das [Arbeitslager Felsberg im Kanton Graubünden].
Manche dieser Arbeitslager waren in Bezug auf militärischen Drill und Lebensbedingungen einem deutschen KZ nicht unähnlich. Der Wiener Zeitzeuge Alexander Süss (*1922) erinnerte sich:
„Nach einem Jahr wurden wir in ein Arbeitslager eingewiesen und das war ziemlich schlimm. Ich würde sagen, es hat den einzigen Unterschied mit einem KZ, daß wir nicht körperlich beschädigt oder geprügelt wurden.“