1954 kam Max mit seiner Frau und den beiden Buben Sandro und Giorgi nach den kurzzeitigen Intermezzi in Israel und Mailand, und diesmal endgültig, wieder nach Wien.
Als möglicher Grund für Max´ Entscheidung in seiner Heimatstadt eine Existenzgründung zu versuchen kann das Anerkenntnis seines Opferstatus
gemäß Opferfürsorgegesetz von 1947 angesehen werden. Neben einigen anderen Vergünstigungen war es ihm dadurch möglich, das damals an eine Konzession gebundene Handelsgewerbe auch ohne den dazu eigentlich obligatorischen Befähigungsnachweis auszuüben.
Wohnort wurde eine Adresse im dritten Bezirk, in der Ditscheinergasse 2/7, Ecke Invalidenstraße 9. Diese Wohnung lag
direkt gegenüber dem ehemaligen Arbeitsplatz von Max´ Vater Setyk, der hier 15 Jahre zuvor (bis 1938) noch in der Fleischmarkthalle gearbeitet hatte. Hier in der Wohnung in der Ditscheinergasse warf Max´ Sohn Sandro aus dem vierten Stock offenbar ganz gerne diverse Küchenutensilien aus dem Fenster auf ahnungslose Passanten, wie aus den Erzählungen von Max´erster Frau Ilona hervorgeht, die Sandro in seinen Büchern beschreibt. Diese Wohnung diente jedoch nur Ilona als Meldeadresse, Max meldete seine Wohnadresse stattdessen an seinem Geschäftsstandort an.
Max Günsberg mit seinen Söhnen Sandro und Giorgi
in Wien, ca. 1954/55
Am 28.08.1954 meldete Max eine Handelsvertretung am Standort Alserstraße 18 im neunten Bezirk an, um als Generalimporteur Uhren der damals sehr bekannten Marke
Onsa zu vertreiben.
Die Popularität dieser Uhren war großteils geschicktem Marketing geschuldet: bei der legendären Atlantiküberfahrt der Mayflower II im Jahre 1957 waren zwei ONSA-«Automatic Waterproof»-Uhren zum Härtetest mit an Bord. Eine Uhr trotzte an der Mastspitze bei Wind und Wetter den Naturgewalten, doch das größere Märtyrium mußte die zweite Uhr erfahren: Diese wurde unter Wasser am Schiffsruder des Seglers befestigt. Im selben Jahr rüstete ONSA auch alle Piloten der belgischen Fluggesellschaft Sabena mit ONSA-Uhren aus.
Mit dem Eigentümer der Firma, Hans-Jörg Gilomen (Sohn des Firmengründers Hans Gilomen, Firmengründung 1923), pflegte Max Günsberg offensichtlich bestes Einvernehmen. So war er am 20.10.1956 auch Gast bei der Vermählung von Hans-Jörg und Rosmarie Gilomen in Bad Attisholz im Schweizer Kanton Solothurn. Solothurn ist ein wichtiges Zentrum der Schweizer Uhrenindustrie.
Die Uhrenmarke Onsa existiert mittlerweile nicht mehr, die Nachfolgefirma Montres Onsa AG wurde 2019 aus dem Schweizer Handelsregister gelöscht.
Eine zusätzliche Gewerbeberechtigung für die Ein-, Aus- und Durchfuhr eines vorerst eingeschränkten Warensortiments erlangte Max für eine weitere Adresse im ersten Bezirk, in der Krugerstraße 3, Tür 8, und meldete hier am 17.12.1954 auch seinen Wohnort an. Etwa 1957/1958 erfolgte die Verlegung beider Gewerbestandorte an Ilonas Adresse in der Ditscheinergasse.
Zusätzlich zu seiner Reisetätigkeit stellte Max sein Angebot regelmäßig auf der Wiener Schmuck- und Uhrenmesse aus, die damals integrativer Bestandteil der Wiener Internationalen Messe war. Die Ausstellungsflächen für die Schmuck- und Uhrenbranche befanden sich in den ehemaligen k.u.k. Hofstallungen, die damals den „
Messepalast“ beherbergten, heute befindet sich dort das
Museumsquartier. Der erste Messeauftritt erfolgte vom 08.-15.09.1957, dazumals noch nicht mit einem eigenen Messestand sondern lediglich einer Vitrine.
In den Folgejahren diente der abgebildete Messestand als Ausstellungsplattform.

Messestand von Max Günsberg auf der Wiener Herbstmesse, etwa 1960
Max Günsberg setzte auch auf unkonventionelle Marketing-Maßnahmen. Gemeinsam mit dem Chefredakteur der Zeitung
Bild-Telegraf, Gerd Bacher (dem späteren langjährigen ORF-Generalintendanten), veranstaltete Max Günsberg sogenannte JE-KA-MI (Jeder kann mitmachen)-Talente-Wettbewerbe, bei denen als Hauptpreise die von ihm vertriebenen Onsa-Uhren ausgelobt waren. Von 13.03.1957 an gab es diesen Wettbewerb rund ein Jahr lang jeden zweiten Mittwoch insgesamt 18x, danach verhinderte der „
Wiener Zeitungskrieg“ eine Fortsetzung. Zu Beginn fanden die Veranstaltungen im „
Schwechater Hof“, dem heutigen Einkaufszentrum Galleria im dritten Bezirk, und, nachdem im November 1957 das AEZ (heute Center Wien Mitte) fertiggestellt war, im dortigen Sendesaal statt, wo auch populäre Radiosendungen wie „Autofahrer unterwegs“ aufgezeichnet und übertragen wurden. Hoffnungsvolle Karrieren nahmen hier ihren Anfang und zahlreiche Publikumslieblinge stellten sich als Testimonials für JE-KA-MI zur Verfügung: Jane Tilden, Franz Antel, Willi Kralik, Johannes Fehring, Fritz Muliar, Gunther Philipp, Heinz Conrads, Bobby Lugano, Wondra & Zwickl, Pirron & Knapp, der in den Folgejahren so berühmte Klaus Kinski, sowie viele andere.
Der "Schwechater Hof" im Jahr 1955
Ganz neu war die Idee des JE-KA-MI freilich nicht. Bereits unmittelbar nach Kriegsende im Jahr 1945 gab es solche Veranstaltungen im Wiener Burggarten.
Offenbar bedienten sich Gerd Bacher und Max Günsberg jedoch eines leicht abgewandelten Namens, um Urheberrechts-Streitigkeiten aus dem Weg zu gehen: statt "Jeder kann mittun" wurde "Jeder kann mitmachen" daraus.
Auch bei der Wahl zur Miss Austria 1957 spendierte Max Günsberg eine seiner Onsa-Uhren als Preis.

Elisabeth "Sissy" Schübel-Auer war der Spross einer jahrhundertealten Heurigen Dynastie. Ihr Konterfei ziert bis heute die Merchandising-Produkte dieses nach wie vor in Familienbesitz befindlichen Weinhauer-Betriebes: https://www.schuebel-auer.at/delikatessen
Am 27.05.1958 erhielt Max aufgrund des
Wiener Heimatrechtes und der damit verbundenen Bundesbürgerschaft, die er seit 1933 besessen hatte, die österreichische Staatsbürgerschaft entsprechend dem Staatsbürgerschafts-Überleitungsgesetz von 1949.
Die zwischenzeitliche Aufhebung seiner Staatsangehörigkeit durch die NS-(Un)rechtsgesetzgebung zwischen 1939 und 1945 war bereits kurz nach Kriegsende noch im Jahr 1945 rückgängig gemacht worden.
Bald darauf jedoch sollte erneut eine Zäsur in seinem Leben eintreten.
Max hatte seine religiösen Überzeugungen zu dieser Zeit laut Sandro längst verloren, seine Frau Ilona bestand jedoch aufgrund ihrer streng religiösen Herkunft auf einem traditionell jüdischen Familienleben. Max besuchte also wieder den Tempel in der Seitenstettengasse und als Schabbesmahl gab es meist gesulzten Karpfen, an den sich sein Sohn Sandro als zuvor in der Badewanne schwimmend erinnerte. Er und Giorgi besuchten übrigens wie schon ihr Vater Max die Volksschule in der Kolonitzgasse im dritten Bezirk.
Die Ehe hielt jedenfalls nicht was sie versprochen hatte, Max und Ilona trennten sich. Am 11.07.1959 kam es zur Scheidung und Max musste die Wohnung in der Ditscheinergasse Ilona überlassen. Das Sorgerecht für Sandro und Giorgi erhielt Ilona ebenfalls, Max durfte Sandro wöchentlich nur einige Stunden sehen.
Seine Geschäftstätigkeit und auch gleich den Wohnort verlegte Max am 21.10.1959 an eine neue Adresse im dritten Bezirk, Rennweg 21, Tür 25 (Eingang Salesianergasse 33), auch das Gewerbe für den Import/Export meldete er an dieser Adresse an und erweiterte dieses dann 1961 auf den Handel mit Waren aller Art.
Kurz danach lernte Max vor dem Zollamt in Wien eine 20 Jahre jüngere Goje (Nichtjüdin), meine Mutter Gerlinde Mann, kennen. Gerlinde „vergaß“ bei jedem Schalter ihren Regenschirm, den ihr Max ebenso beharrlich nachtrug. Die beiden verliebten sich und Max nahm sie am 2.11.1959 auch gleich in seinem Geschäft auf. Max war ein Charmeur und weltgewandt, Gerlinde war davon beeindruckt, da sie bis dahin über Verwandtenbesuche in Oberösterreich und ein oder zwei Campingurlaube in Grado nicht hinausgekommen war. Mit Max hingegen waren spannende (Schmuggel?)-Reisen nach Italien und in die Schweiz an der Tagesordnung.
Schon bald wollten Max und Gerlinde heiraten. Aufgrund der Erfahrungen, die er als Wiener Jude in eindrücklicher Erinnerung hatte und da er ohnehin nur noch formal seiner Glaubensgemeinschaft angehörte, wohl aber auch als Schutz für seine junge Frau und eventuellen weiteren Nachwuchs, trat er kurz vor der Heirat am 21.02.1961 aus der israelitischen Kultusgemeinde aus und gab sich künftig als o.B. (ohne Bekenntnis) aus.
Am 24.02.1961 erfolgte schließlich die Hochzeit von Max Günsberg und Gerlinde Mann am Standesamt Wien-Landstraße im dritten Bezirk.
Gerlindes Vater Franz Mann, der als zuvor Arbeitsloser bereits 1933 der NSDAP beigetreten war und dadurch 1938 wie von Zauberhand plötzlich einen gut dotierten Job erhalten und wohl auch aufgrund seiner NS-Funktionärstätigkeit das Glück gehabt hatte, nicht zum Kriegsdienst herangezogen zu werden, stellte sich für seine junge Tochter jedoch alles andere als einen 20 Jahre älteren jüdischen Mann vor und warf Gerlinde kurzerhand aus der elterlichen Wohnung, die sich auch im dritten Bezirk, Marokkanergasse 1/14, befand. Gerlinde wohnte dann einige Zeit mit Max in der kleinen Wohnung am Rennweg.
Das Verhältnis zwischen Max, der ja seine gesamte Familie im Holocaust verloren hatte, und seinem Schwiegervater, der zwar zu Lebzeiten nie seine NS-Funtionärstätigkeit zugab (seine Kinder und auch Max wussten davon definitiv nie etwas, ich konnte die entsprechenden Dokumente erst 2021 ausfindig machen), aber kaum abstreiten konnte und zugeben musste, vom NS-Regime profitiert zu haben, besserte sich wohl in der Folge wieder und ich kann mich an diverse Familien- und Weihnachtsfeste im Kreise der gesamten Familie, also auch mit Max, erinnern. Ich konnte als Dreikäsehoch allerdings nicht verstehen, warum sich Max und sein Schwiegervater bei jedem dieser Feste in die Haare kriegten. Heute kann ich mir das hingegen lebhaft vorstellen.
Zumindest einmal führten die Streitigkeiten zwischen Max und Gerlindes Vater Franz Mann im Stiegenhaus in der Marokkanergasse sogar zu Handgreiflichkeiten, in deren Verlauf sich nach einem Faustschlag ein Backenzahn von Gerlindes Vater lockerte.
Die junge Gerlinde und auch ihr um sechs Jahre jüngerer Bruder Gerhard waren nicht nur von Max Reisetätigkeit und Lebenswandel beeindruckt. Er öffnete den beiden Teenagern auch bezüglich der NS-Verbrechen die Augen. Dadurch wurde das Verhältnis der beiden Jugendlichen zu ihrem Vater, der, obwohl er seine tatsächliche NS-Laufbahn vor ihnen zeitlebens verheimlichte, seinen offensichtlichen Bezug dazu jedoch nicht zur Gänze abstreiten konnte, seit diesem Zeitpunkt definitiv schwer belastet.
Gerlinde wollte offenbar sogar zum Judentum konvertieren. Max lehnte dies jedoch offenbar aufgrund seiner einschlägigen Erfahrungen kategorisch ab.
Die Trennung von seiner ersten Frau Ilona war für Max zu diesem Zeitpunkt jedoch alles andere als abgeschlossen und artete in der Folge zu einem regelrechten Rosenkrieg aus. Vor allem um das Sorgerecht für Sandro wurde, nach meiner Meinung ohne Rücksicht auf das Kindeswohl, heftigst gerungen. Als Argument kann ins Treffen geführt werden, dass sowohl Ilona als auch Max erst einige Jahre zuvor den Großteil ihrer Familien auf furchtbare Weise verloren hatten und deshalb die Angst vor einem neuerlichen "Verlust" groß war.
Max´ Ex-Frau Ilona wusste genau, wo die Eltern der neuen Frau an Max´ Seite wohnten. Also läuteten in der Marokkanergasse 1/14 gegen drei Uhr früh vier Polizisten Sturm um in der Folge die Wohnung nach dem entführten Kind zu durchsuchen.
Artikel im Kurier vom 28.07.1960
Auch danach hatte der Streit um die Kinder kein Ende und es sollte noch weitere "Entführungen" geben. Nachdem Ilona Wien in Richtung Schweiz verlassen hatte, dort eine neue Existenz und Partnerschaft fand und ihr erste Wohnung in der Schweiz anfänglich zu klein war, kamen Sandro und Giorgi in ein Kinderheim, übrigens dasselbe Wartheim in Heiden, in dem 1938 schon ihre Tanten
Herta und
Rita (Max´ Schwestern) gewesen waren. Max war damit aber nicht einverstanden und holte in einer abenteuerlichen Aktion den kleinen Sandro Anfang Oktober 1960 ohne Wissen der Mutter per Linienflug (damals sehr außergewöhnlich) wieder zurück nach Wien.
Jahrelange juristische und polizeiliche Scharmützel zwischen Ilona und Max folgten. Irgendwann um 1962 verständigte man sich dennoch darauf, dass Sandro beim Vater und Giorgi bei der Mutter bleiben sollte.
Damit sich Max endlich wieder um sein Geschäft kümmern konnte, und da die Wohnung am Rennweg wohl kaum Platz für eine komplette Familie bot, wurde Sandro wochentags im Knaben-Internat Rainer-Schurtl im 23. Bezirk in Mauer, Kaserngasse 11-13, untergebracht und besuchte nun statt der Volksschule in der Kolonitzgasse eine in der Nähe des Internats in Mauer, Hauptstraße 52.
Seine Lehrerin war offenbar sehr zufrieden mit ihm.
Max konnte sehr großzügig sein. So engagierte er einmal für Sandros Geburtstag den berühmten Zauberer Bobby Lugano, den er ja noch von seiner JEKAMI-Zeit kannte.
Aber auch nachdem sich der Sorgerechtsstreit halbwegs gelegt hatte, kam Max nicht zur Ruhe, im Gegenteil. Sowohl geschäftlich als auch privat und auch gesundheitlich waren die nächsten Jahre ausgesprochen fordernd.
Ende 1961 erwarb Max eine neue Eigentumswohnung mit ca. 75m² in einer damals aufstrebenden Wohngegend. Die Adresse lautete 1200 Wien, Brigittagasse 18, Tür 13. Dieser Neubau war auf einem Grundstück errichtet worden, welches sich im Jahr 1944 im Zuge des Raubzuges an jüdischem Eigentum das „Großdeutsche Reich“ (Reichsfinanzverwaltung) auf Kosten der rechtmäßigen Eigentümerin Malka Glück einverleibt hatte. 1959 wurde das „erblose“ Grundstück an die sogenannten Sammelstellen zugunsten von NS-Opfern restituiert und 1960 vom Bauträger, dem Verein zur Förderung des Wohnbaues, käuflich erworben. Ob Max das wusste oder es ihn auch nur interessiert hätte, lässt sich nicht feststellen.
Um Max Gesundheit stand es 1962 wieder einmal nicht zum Besten. Anläßlich einer Geschäftsreise in der Schweiz musste er am 27.01.1962 in das
Clara-Spital in Basel, nach Sandros und meiner Erinnerung wurden lebensbedrohliche Symptome, eine Gelbsucht und ein schweres Gallenleiden festgestellt. Erst nach etwa einem Monat durfte er die Klinik wieder verlassen.
Ab dem Jahr 1961 finden sich keine Messeauftritte von Max und auch keine Einschaltungen in Fachzeitschriften. Demnach lief das Geschäft mit den Onsa-Uhren nicht mehr zufriedenstellend, wahrscheinlich hatten seine privaten und gesundheitlichen Probleme darauf ebenfalls Einfluss. Also bemühte sich Max um eine andere Vertretung und fand diese passenderweise in der kleinen Schweizer Gemeinde Günsberg im Kanton Solothurn. Uhren aus Günsberg von Günsberg zu kaufen hört sich tatsächlich nach einem unschlagbaren Verkaufsargument an
Gerhard und Iris Günsberg in Günsberg 2012
Im Dezember 1964 ist in der Fachzeitschrift "Uhren-Juwelen" von der Aufhebung eines Ausgleichsverfahrens gegen Max Günsberg zu lesen. Zu dieser Insolvenz hatte unter anderem geführt, dass er sich oftmals auf Ratengeschäfte für die verkauften Uhren einließ, was ihm einen Haufen Exekutionstitel eintrug, die aber allzu oft nicht das Papier wert waren, auf dem sie gedruckt wurden.
Auch die Beauftragung eines Inkassobüros sollte daran nicht viel ändern.
Max suchte offenbar jede Möglichkeit seine missliche Finanzlage in den Griff zu bekommen und eröffnete 1964 zusätzlich ein Detailgeschäft "Burgring-Juwelen" in 1010 Wien, Burgring 1. Als Geschäftsführerin fungierte seine Frau Gerlinde, die auch bis zum Zeitpunkt meiner Geburt dort im Verkauf tätig war. Laut ihren Erzählungen sogar noch hochschwanger bis zu dem Zeitpunkt, an dem ihre Fruchtblase platzte. Nachdem sich Max aber wie üblich auf Geschäftsreise befand, führte sie ihr Bruder in höchster Not ins Spital zur Entbindung.
Das Geschäft am Burgring, in dem neben Schmuck auch Souvenirs verkauft wurden, florierte aber offenbar ebenfalls nicht wunschgemäß. Also gab Max auch dieses Abenteuer 1966 wieder auf.
Am 14.03.1964 erblickte ich als sein dritter Sohn das Licht der Welt. Meine Mutter Gerlinde wollte mir den schönen Namen David geben, Max lehnte dies aufgrund seiner antisemitischen Erfahrungen jedoch ab. So erhielt ich meinen Namen Gerhard nach dem Bruder meiner Mutter und wurde nach ihrer Religion protestantisch getauft. Meinen großen Bruder Sandro bekam ich kaum zu Gesicht (ich war aber auch noch viel zu klein um mich daran erinnern zu können), er war ja wochentags im Internat in Mauer untergebracht, besuchte zu dieser Zeit von dort aus das Gymnasium in der Diefenbachgasse im 15. Bezirk und kam nur am Wochenende zu uns nach Hause.
Max, Sandro und Gerhard Günsberg Herbst 1964
Gerhard, Max, Gerlinde und Sandro Günsberg am 24.12.1964 in der Wohnung Brigittagasse 18/13
Da Gerlinde nun einen Großteil ihrer Aufmerksamkeit mir widmete und das Internatsleben ohnehin nicht besonders erstrebenswert war (Sandros Papa Max war ja ständig auf Geschäftsreisen und hatte kaum Zeit), entschloss sich der dreizehnjährige Sandro 1965 in die Schweiz zu seiner Mutter zu ziehen. Zu diesem Zweck besorgte er sich ohne Max´ Wissen eine Bahnfahrkarte und büxte kurzerhand aus. Aus diesem Grund erbte ich sein Kinderzimmer samt den dort verbliebenen zahlreichen Karl May-Bänden.
Die Beziehung von Max und Gerlinde litt offenbar unter den ständigen Schwierigkeiten. So verliebte sich Gerlinde in einen verheirateten Juwelier namens Novotny, der ganz in der Nähe unserer Wohnung, in der Wallensteinstraße, ein Geschäft betrieb, und zog aus der gemeinsamen Wohnung aus und mit mir wieder zu ihren Eltern im dritten Bezirk. Gerlinde selbst hat mir das zu ihren Lebzeiten (1940-2014) nie erzählt, und meine frühesten Kindheitserinnerungen beinhalten tatsächlich den Blick aus dem Gitterbett in der Wohnung von Gerlindes Eltern statt in unserer eigenen Wohnung.
Die Zeit rund um meine Geburt war demnach für ihn kein Honiglecken. Einerseits der Ausgleich, fast zeitgleich verließ ihn seine junge Frau Gerlinde und im Folgejahr ging sein geliebter Sohn Sandro in die Schweiz zu seiner Mutter. Aber Max hatte ja schon ganz andere Probleme bewältigt und wie ein Stehaufmännchen schaffte er den privaten und geschäftlichen Neuanfang ein weiteres Mal. Gerlinde kam wieder zu ihm zurück und er fand auch Geldgeber um seinen Schmuckhandel weiter betreiben zu können.
Dazu passend eine Anekdote, die mir Gerlinde wiederholt erzählte, sie lautete etwa so: Max bemühte sich um Kredit bei einer jüdischen Privatbank namens AGUDAH, welche im ersten Bezirk, Stubenbastei 1, ansässig war. Deren Direktor Lemberger meinte einmal zu Gerlinde: „Wissen Sie, Frau Günsberg – es gibt potentielle Kreditnehmer, die wenig vorzuweisen haben. Manche, ganz dreiste, haben überhaupt nichts. Aber Ihr Mann, der hatte weniger als nichts, als er bei mir vorstellig wurde. Ich fand ihn dennoch kreditwürdig.“ [Lemberger war orthodoxer Jude und hat sich wohl anderer Wortwahl und seines typischen Akzentes befleißigt, aber dem Sinn nach stimmt es]. Lemberger erzählte später auch mir persönlich, dass er sich in Max nicht getäuscht hätte. Das sagt meiner Meinung nach sehr viel über Max aus – er hatte Charisma und konnte Menschen von sich einnehmen.
Ab etwa 1969/1970 hatte sich sein privates und geschäftliches Leben endlich stabilisiert. Am 26.09.1969 erwarb Max in unserem Wohnhaus in der Brigittagasse 18 zusätzlich eine kleine Wohnung von knapp 30m² , Tür Nummer 1 im Erdgeschoß, richtete ein Büro ein und übte hier ab diesem Zeitpunkt seine Geschäftstätigkeit gemeinsam mit Gerlinde und einer zusätzlichen kaufmännischen Hilfskraft aus. Seinen Gewerbestandort meldete er an dieser Adresse jedoch nicht an. Zu dieser Zeit hatte er die Uhrenvertretung bereits aufgegeben und betätigte sich nur noch im Schmuckgroßhandel.
Offenbar hatte er sich vom Uhrenhandel jedoch noch nicht endgültig verabschiedet. Am 20.2.1974 ließ er in Wien die Uhrenmarke "Mag" registrieren. Weitere Aktivitäten im Uhrenhandel sind jedoch nicht bekannt, weder unter dieser Marke noch anderweitig.
Mir ist Max als Gerechtigkeitsfanatiker in Erinnerung. Wenn er sich ungerecht behandelt fühlte und auch wenn die Erfolgsaussichten mehr als bescheiden waren, zögerte er nicht sich auf juristische Auseinandersetzungen einzulassen. Doch auch ohne juristischen Beistand ließ er sich nichts gefallen und trug nötigenfalls handgreifliche Streitereien aus. Das blieb nicht immer ohne Folgen, wie ein ärztliches Attest (ca. 1969) bezeugt.
In den frühen 1970er Jahren gelang Max mit Buchstabenbroschen aus Gold und Silber der bis dahin größte Verkaufserfolg seiner Firma. Das dazu nötige Marketing betrieb er wie üblich unkonventionell. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, diese ganz und gar nicht neuen Broschen, die auch nie besonders gefragt gewesen waren, zum Kassenschlager zu machen. Zu diesem Zweck wurden komplette Garnituren ungefragt sämtlichen in der Kundenkartei aufscheinenden Juwelieren samt Rechnung zugeschickt. Die Bedenken von Gerlinde bezüglich eines Imageschadens ignorierte er, wer wolle, könne sie ja zurückschicken. Doch siehe da – er musste irgendwie einen Nerv getroffen haben. Kaum eine Lieferung kam zurück und in der Folge wollte offenbar ganz Österreich genau diesen Schmuck haben. Monatelang stand das Telefon nicht mehr still und Gerlinde musste nächtliche Sonderschichten einlegen um alle Nachbestellungen zeitgerecht zu erfüllen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war der Goldwarengroßhandel von Max Günsberg österreichweit ein Begriff.

Inserat in der Zeitschrift Uhren-Juwelen September 1971
Die folgende Expansionsphase weckte einen Personalbedarf, der aus familiären Ressourcen abgedeckt wurde. Im winzigen Büro in der Brigittagasse kam zur Verstärkung Gerlindes jüngerer Bruder, mein Onkel Gerhard, zum Einsatz und auch der blutjunge Sandro durfte sich als Vertreter erste Sporen im Geschäft seines Vaters verdienen. Sein Vertrauen in die neue Belegschaft war trotz familiärer Bande enden wollend. Nach den Erzählungen meines Onkels Gerhard versperrte er mitunter sämtliche Laden und Safes mit den Worten "in einer Stunde bin ich wieder da". Nach vielen Stunden Wartezeit erschien er dann doch noch kurz vor Annahmeschluss des Postamtes und es mussten in Windeseile Bestellungen konfektioniert und (natürlich unbezahlte) Überstunden absolviert werden.
Etwa ab 1972 war Max auf Drängen seiner jungen Frau und weil auch das Büro ja nun wirklich viel zu klein geworden war auf der Suche nach einer passenderen Bleibe. Ein schmuckes Häuschen in Vösendorf hatte er 1973 bereits angezahlt, saß dabei jedoch einem Betrüger auf und verlor wieder einmal einen ganzen Batzen Geld. Den nachfolgenden langwierigen und teuren Prozess ließ er sich, wie bei solchen Gelegenheiten üblich, nicht ausreden, dieser brachte natürlich nichts ein.
Ich kann mich erinnern, dass Max zu jener Zeit wiederholt am Semmering nach einem Domizil Ausschau hielt. Ich war einige Male dabei wenn er sich etwas ansah. Dass der Semmering und das umliegende Gebiet eine intensiv jüdisch geprägte Vorkriegsvergangenheit hat (Theodor Herzl ist in Edlach an der Rax gestorben, Schnitzler und Freud waren Stammgäste), wusste ich schon lange. Aber wie sehr das jüdische Leben am Semmering auch nach dem Krieg in den 1950er und 1960er Jahren erblühte, war mir lange nicht bewusst. Beispielsweise hatte auch Karl Farkas in Edlach ein Sommerhäuschen: https://www.wina-magazin.at/koscherer-semmering/. Max´ Interesse an dieser Gegend ist daher nachvollziehbar.
1974 sollte es jedoch soweit sein. Er erstand Anfang Mai die repräsentative Villa des insolventen deutschen Schmuck-Fabrikanten Breuning aus Pforzheim samt großem Garten, Baujahr 1929, im 23. Bezirk in Wien-Mauer, Anton-Kriegergasse 142, ganz in der Nähe von Sandros ehemaligem Internat. Die durchaus interessante Geschichte des Hauses ist [hier] abrufbar. In diesem Haus befanden sich nunmehr das Geschäftslokal (Büro) im Erdgeschoß und unsere Wohnung im ersten Stock. Der neue Standort wurde auch in der Gewerbeberechtigung vermerkt. Er hatte hier aber noch weitere Pläne. So sollte ursprünglich im Keller eine kleine Schmuckproduktion entstehen.
Der Plan wurde von ihm jedoch wieder fallengelassen und stattdessen im Jahr 1975 im hinteren Teil des Gartens der Bau einer externen Produktionsstätte geplant. Um die geplante Schmuckerzeugung ohne Verzögerung zu beginnen wurden gleich nach Baubeginn einige Maschinen angeschafft, die dann Jahre später ungebraucht aber wenigstens verstaubt wieder ihren Besitzer wechseln sollten.
Max hatte sein Vorhaben jedoch wie üblich begonnen, ohne sich um eine Genehmigung zu kümmern. Also kam es wie es kommen musste – ein missliebiger Nachbar, ein stockalter Mann namens Rudolf Dannemann, dem als ehemals bekennendem Nazi der jüdische Hausbesitzer nebenan ohnehin zuwider war, hetzte Max die Baupolizei auf den Hals (er hatte auch das Bellen unseres Hundes zu bemängeln und etliche Male kreuzte eine Polizeistreife bei uns auf). Die Schwierigkeiten mit der Baupolizei durften nach dessen Tod Max´ Erben ausfechten, bis 1976 endlich eine nachträgliche Baugenehmigung erwirkt wurde.
Die Fertigstellung dieses Bauwerks, in dem nie Schmuck produziert wurde und das noch heute als Gartenhaus dient, erlebte Max Günsberg also nicht mehr.
Seit 1971 stellte Max Günsberg wieder regelmäßig auf der Wiener Internationalen Messe seine Waren aus. Im Herbst 1975 fand erstmalig in Wien eine reine Fachmesse für Schmuck und Uhren statt, bis dahin war die Uhren- und Schmuckbranche ja in der Wiener Internationalen Messe integriert gewesen. Da durfte Max´ Firma natürlich nicht fehlen.
An einem Sonntag, dem 15.03.1976 und damit genau an seinem 56. Geburtstag, durfte ich mit ihm die Wiener Internationale Messe besuchen. Diesmal konnte er diese Konsum-Leistungsschau zum Vergnügen aufsuchen, da er ja nicht als Aussteller dabei sein musste. Nach einigen Stunden des Herumschlenderns auf dem riesigen Messeareal im Prater wurden meine Kinderfüße müde und wir schlossen einen Deal – ich durfte in der Halle mit den Musikinstrumenten bleiben und mich ausruhen, er wollte noch weitere Ausstellungshallen ansehen und mich nach einer Stunde wieder abholen. Dieser Abschied sollte jedoch endgültig sein. Max brach kurze Zeit später bewusstlos zusammen und wurde in der Folge in das allgemeine Krankenhaus der Stadt Wien gebracht. Er, der seinen zu hohen Blutdruck immer unwirsch abgetan hatte und keine entsprechenden Medikamente nehmen wollte, erlitt einen Gehirnschlag, ein Blutgerinnsel hatte sein Gehirn unwiederbringlich geschädigt. Er erwachte nicht mehr aus dem Koma, dabei wollte Sandro ihm eine höchste erfreuliche Nachricht überbringen – Max sollte nämlich erstmals Großvater werden. Wir erfuhren aber nicht mehr ob Sandros oder Gerlindes Worte noch zu ihm durchdrangen. Nach fünf für unsere Familie qualvollen Tagen hörte sein Herz am 20.03.1976 um 18:40 zu schlagen auf.
Gerlinde bemühte sich um eine Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof in Wien, dies lehnte die israelitische Kultusgemeinde aufgrund seines 1961 erfolgten Austritts jedoch ab. Er wurde auf dem Friedhof der Familie seiner Frau Gerlinde, in Tullnerbach bei Wien, beigesetzt. Bei seiner Beerdigung auf diesem christlichen Friedhof sprach Giorgi, der zeitlebens ein schlechtes Verhältnis zu seinem Vater gehabt hatte, das
Kaddischgebet, das bei jüdischen Beerdigungen vom nächsten Verwandten gesprochen wird. Als Zwölfjähriger hatte ich von all dem keine Ahnung, erst jetzt kann ich das richtig einschätzen.