Nachdem Ilona Blime Netzers Vater Adolf Abraham Netzer um das Jahr 1912/13 Ester Herzfeld geheiratet hatte und mit ihr in Balassagyarmat lebte, kam sein jüngerer Bruder
Sandor Yehoshua Shie Netzer (*1893) auffallend oft im Haus der Familie Herzfeld in Vac zu Besuch, da Esters Schwester
Sara Herzfeld (*1897) seine Aufmerksamkeit geweckt hatte. Im Jahr 1916 heirateten schließlich Blimes Onkel Shie Netzer und ihre Tante Sara Herzfeld. Sie bekamen am Familiensitz der Familie Herzfeld in
Vac (dt.: Waitzen) nahe Budapest fünf Kinder. Zwei weitere Kinder wurden nach der im Jahr 1930 erfolgten Übersiedlung nach Balassagyarmat dort geboren. Shie Netzer war Textilkaufmann und überzeugter Zionist, der mit seiner Familie wiederholt eine Auswanderung nach Palästina erörterte. Das Familienleben gestaltete sich orthodox und die Kinder wurden entsprechend erzogen.
Der älteste Sohn der Familie, Salomon Schloime Netzer (*1921) war bereits 1942 zum Dienst in der ungarischen Armee zwangsverpflichtet worden. Er desertierte und tauchte bis September 1944 im rumänischen Siebenbürgen unter. Danach schlug er sich über einen langen Zeitraum zu Fuß bis nach Hause durch und traf nach Kriegsende 1945 in Budapest auf seine überlebenden Familienmitglieder.
Der zweitälteste Sohn Avraham Shmuel Netzer (*1926) kam während des Krieges in das KZ Dachau bei München. Er überlebte, erkrankte jedoch schwer an Typhus und benötigte auch noch nach Kriegsende Genesungszeit. Er starb in Israel am 9. Juni 2000.
Die drei blonden, blauäugigen Netzer-Schwestern Ella Netzer (*1923), Irene Netzer (*1928) und Valerie Netzer (*1929, mit dem Spitznamen Baba, da sie nicht nur blond, sondern auch ungewöhnlich groß war) wurden am 10. Juni 1944 zusammen mit ihren Eltern Shie und Sara Netzer, dem jüngsten Bruder Aaron David Netzer (*1931) und der jüngsten Schwester Hadasa Netzer (*1933) sowie rund 2.800 anderen Juden aus dem Ghetto Balassagyarmat nach Auschwitz deportiert und kamen dort am 13. Juni 1944 an. An der berüchtigten Rampe wurden zunächst die Männer von den Frauen getrennt. Danach wurden die arbeitsfähigen Frauen dem Alter nach selektiert. Mit ihren 15 Jahren war Baba gerade alt genug, um mit ihren Schwestern anstatt mit ihrer Mutter und der kleinen Schwester zu gehen. Dies sollte ihr das Leben retten. Beide Eltern sowie die beiden jüngeren Geschwister wurden binnen kurzer Frist ermordet während die drei älteren Schwestern das Martyrium des Holocaust in verschiedenen Konzentrationslagern überleben sollten. Ella als älteste bemühte sich in der Folge stets ihre jüngeren Schwestern so weit als möglich zu beschützen.
In den knapp zwei Monaten im KZ Auschwitz-Birkenau trafen sie auf fünf Schwestern der Familie Rosenthal, die ebenfalls aus Balassagyarmat stammten. Bis zur Befreiung im April 1945 hielten diese acht Mädchen nunmehr zusammen und sorgten bestmöglich füreinander. Neben von vielen Überlebenden berichteten furchtbaren Erlebnissen, wie zum Beispiel verzweifelten Frauen, die vorsätzlich am elektrischen Zaun Suizid begingen, erinnerten sich die Netzer-Schwestern an einige prägende Ereignisse:
Für die tägliche Wasser-Ration mussten sich die Frauen einer Baracke in einer langen Reihe hintereinander aufstellen und aus einem vor der Baracke aufgestellten Bottich Wasser schöpfen. Da die drei Schwestern bemüht waren nicht aufzufallen postierten sie sich stets am Ende der Reihe. Oftmals war der Bottich daher bereits leer, als sie endlich bei diesem ankamen.
Eines Tages sah die durstige Baba vor einer Nachbarbaracke einen mit Wasser gefüllten Bottich. Mit zwei anderen Mädchen unternahm sie den Versuch an diesen Bottich zu gelangen. Das Trio wurde jedoch von der Wachmannschaft entdeckt, die umgehend das Feuer eröffnete. Die zwei Mädchen sprangen in den Bottich, Baba tat es ihnen gleich. Die Wachen stellten das Feuer ein und Baba wollte ihren Durst stillen. Sie musste jedoch feststellen, dass das Wasser tiefrot gefärbt war. Die beiden Mädchen waren nicht ins Wasser gesprungen sondern tödlich getroffen hineingefallen…
Am 16. August 1944, dem Tag der Überstellung von Auschwitz ins Frauenlager Ravensbrück, mussten die Frauen wiederum in einer Reihe hintereinander Aufstellung nehmen. Der berüchtigte „Todesengel“
Josef Mengele, ein arrivierter Mediziner, der sich nach Belieben der Insassen des KZ Auschwitz bediente, um an ihnen unmenschliche Experimente mit oftmals bewusst tödlichem Ausgang anzustellen, musterte die Frauen vor dem Betreten der Bahnwaggons. Die ungewöhnlich große, blonde Baba erregte seine Aufmerksamkeit und er nahm sie an der Hand. Unwillkürlich zuckte sie zurück und Mengele ließ glücklicherweise tatsächlich von ihr ab.
Im Lager Ravensbrück brachten Ella, Irene und Baba etwa zwei Wochen zu, bevor sie am 30. August 1944 ins KZ Buchenwald überstellt wurden. Beim Abtransport kamen sie an der Krankenstation des Lagers vorbei. Ella entdeckte dort ein krankes Mädchen ihrer Baracke hinter einem Fenster. Da Krankheit meist einem Todesurteil gleichkam, hob die beherzte Ella das Mädchen kurzerhand aus dem Fenster, versteckte es in der abfahrbereiten Mädchengruppe und rettete ihm damit das Leben. Die Frau emigrierte nach dem Krieg nach Israel.
Ab dem 5. September 1944 verrichteten die Netzer-Schwestern in Altenburg, einem Außenlager des KZ Buchenwald, Zwangsarbeit in der Rüstungsproduktion. In einem Betrieb der Hugo Schneider AG (HASAG) mussten sie Abertausende Patronenhülsen kontrollieren. Eines Tages klagte eine der Rosenthal-Schwestern namens Elsa über Beschwerden und suchte die Krankenstation auf. Die diensthabende belgische Ärztin attestierte eine Lungenentzündung, was erneut ein Todesurteil bedeuten konnte. Die blonde Ella Netzer, die aufgrund ihres Aussehens und ihrer Art sowie ihrer guten, in der Schule in Ungarn erworbenen, Kenntnisse der deutschen Sprache bei manchen Aufsehern einen gewissen Grad an Sympathie genoss, wandte sich an einen Angehörigen der SS und flehte ihn weinend an Elsa Rosenthal noch vom anderen, französischen Lagerarzt untersuchen zu lassen. Dieser stellte eine normale Erkältung fest – Ella hatte erneut ein Leben gerettet, Elsa Rosenthal lebte nach dem Krieg wieder in Ungarn.
HASAG Werk Altenburg bei Leipzig, 1944
Mit dem Heranrücken der Front begann für die Inhaftierten des Lagers Altenburg am 13. April 1945 einer der oft beschriebenen
Todesmärsche, also die Evakuierung der Lagerinsassen ins Innere des Reichsgebietes, die zahlreichen Menschen noch in den letzten Kriegstagen das Leben kostete. Die Front holte diesen Marsch aber bereits nach nur einem Tag ein, wodurch die Länge des Marsches bescheiden ausfiel. Im Bereich Waldenburg, gut 20km von Altenburg entfernt, versorgten die Wachmannschaften die Häftlinge mit etwas Brot und befahlen ihnen, nunmehr ohne Bewachung, auf die umliegenden Hügel zu gehen. Bereits am nächsten Morgen konnten die Mädchen im Tal amerikanische Panzer und Soldaten erkennen und wagten sich zurück in den Ort. Am 14. April 1945 wurden in Waldenburg rund 800 ungarische Juden und Jüdinnen befreit.
Ella Netzer kehrte nach Budapest zurück und heiratete dort am 16. Juni 1946 Mor Moische Morris Buchinger, den Witwer ihrer erst kurz zuvor im März 1945 verstorbenen Cousine Erszebet Ciluka Netzer (sie war so etwas wie der tragische Star der Familie von
Adolf Netzer). Das Paar lebte von 1947 bis 1950 in Mailand, wo am 31. März 1950 Sohn Avi Alexander Buchinger zur Welt kam. Am 18. März 1951 erblickte in Paris Tochter Yvette Netzer (✡ 15.5.2013 in Los Angeles) das Licht der Welt. Von 1951 bis 1963 lebte die Familie Buchinger in Argentinien, danach in Los Angeles. Ihre bescheidenen englischen Sprachkenntnisse in den 1990er Jahren lassen darauf schließen, dass im Hause Buchinger vornehmlich jiddisch oder auch ungarisch gesprochen wurde. Ella Netzer-Buchinger hinterließ ihre Lebenserinnerungen in den 1990er Jahren in einem Interview für das
Visual History Archive der USC Shoah Foundation. Sie starb am 21. August 2010 in Los Angeles.
Irene Netzer heiratete nach dem Krieg Alfred Goldschmidt und bekam vier Kinder. Sie starb am 23. Oktober 2022 in Miami.
Valerie Baba Netzer heiratete nach dem Krieg Arthur Rosenthal, einen Cousin der Rosenthal-Schwestern, und bekam zwei Kinder. Baba hinterließ ihre Lebenserinnerungen in den 1990er Jahren in einem Interview für das
Visual History Archive der USC Shoah Foundation. Sie starb am 16. Mai 2018 in New Jersey.