Max Geschäftspraktiken unterschieden sich von heutigen Gepflogenheiten. An Zahlung statt erhielt Max von seinen Großhandelskunden oftmals Wechsel, also Schuldverschreibungen. Manchmal aber auch nur formlose sogenannte „Bons“. Diese hatten zwar keinerlei rechtlich bindenden Charakter, erfüllten aber doch zumeist ihren Zweck. Da Max Menschenkenntnis jedoch nicht immer treffsicher war, musste er mehr als einmal eine beträchtliche Summe in den Wind schreiben. Auch Gegengeschäfte waren üblich. Legendär und mir gut in Erinnerung ist das fassungslose Gesicht meiner Mutter Gerlinde, als unvermittelt ein Klein-LKW vor unserer Tür hielt und eine komplette Ladung Tiefkühl-Marillenknödel ablud. Max hatte diese an Zahlung statt akzeptiert und Gerlinde nichts davon gesagt. Sämtliche Bekannten und Verwandten lebten nun wochenlang ausschließlich von Marillenknödeln.
Mittlerweile hatte Gerlinde ihren Mann aber laut ihren Angaben wenigstens davon überzeugen können, die Gepflogenheiten eines ordentlichen Kaufmannes in Form einer rudimentären Buchhaltung einzuführen. Bis dahin hatte er das bewährte „linker Hosensack – Einnahmen, rechter Hosensack – Ausgaben“ praktiziert.
Max hat mir nie erzählt, dass er als Jugendlicher aktiv Fußball gespielt hatte. Seine diesbezügliche Begeisterung vermittelte er mir jedoch, indem er mit mir einige Fußballländerspiele, vornehmlich den Klassiker Österreich-Ungarn, im Wiener Praterstadion besuchte. Und die Wiese in unserem Garten musste zum Leidwesen von Gerlinde von allen Blumen und Sträuchern frei bleiben, damit ich Platz zum Fußballspielen hätte. Genützt hat das freilich wenig, ich wurde nie ein guter Kicker.
Dem aktiven Sport hatte er schon lange gänzlich entsagt, ich kann mich nicht erinnern ihn jemals im Laufschritt gesehen zu haben. Am Strand zeigte er hingegen eine beachtliche Kondition beim Boccia-Spiel. Die von Gerlindes Familie allwöchentlich betriebenen Wanderausflüge auf die Wiener Hausberge begleitete er nur sporadisch. Sein Lieblingsrevier für gemütliche Spaziergänge mit gepflegtem Kaffee und Kuchen war der Kurpark in Baden bei Wien. Und auch der Schach-Sport kam seinem überschaubaren Bewegungsdrang entgegen. Darin entwickelte er laut Sandro bemerkenswertes Niveau und große Leidenschaft, die er zur Gänze an Sandro weitergab, für mich blieb da nichts mehr übrig. Dem Wintersport frönte er insofern, als er statt Schifahren zu lernen lieber die bequemere Variante des Schi-Bob-Fahrens vorzog. Böse Zungen behaupten, dass er seine junge Frau nicht unbeaufsichtigt bei Schilehrern lassen wollte.
Max´ Geschäftserfolg war nicht konstant und die finanzielle Situation nicht immer rosig. Um zu sparen verbrachte er mit Vorliebe viele Stunden im Handelsgericht in der Riemergasse im ersten Bezirk um dort bei Zwangsversteigerungen günstige gebrauchte Schnäppchen zu ergattern (er hätte ebay geliebt). Aus diesem Grund gab es bei uns zu Hause kaum moderne oder neue Einrichtungsgegenstände. Die Möbel waren aus zweiter Hand und passten samt und sonders nicht zusammen, und als schon alle Hausparteien Farbfernsehen besaßen, musste bei uns noch jahrelang ein Schwarz-Weiß-Fernseher seinen Dienst verrichten.
Als Gerlinde in den frühen 1960er Jahren von ihren Eltern ein Gartengrundstück im 13. Wiener Gemeindebezirk in Ober St.Veit als vorgezogenes Erbe geschenkt bekam, kümmerte sich Max um ein kleines Häuschen für dieses Grundstück. Im 19. Bezirk in der Krottenbachstraße sollten einige Kleingartenhäuser einem Bauprojekt weichen und Max hatte davon Wind bekommen. Schnell war er mit dem Besitzer eines dieser kleinen Holzhäuser, der eigentlich mit keinerlei Erlös gerechnet hatte, handelseins. Max ließ das Häuschen abtragen und in Gerlindes Garten wieder aufbauen. Die Kosten für Ab- und Aufbau, für den Transport und die seltsamerweise beim Transport verloren gegangenen Teile (Max´ Menschenkenntnis war ja bereits Thema) überstiegen wohl den Preis eines neuen Gartenhauses.
Für manche Dinge war hingegen immer genug Geld da. In erster Linie für hochwertige Lebensmittel, sündteures Filetsteak stand bei uns unverhältnismäßig oft auf dem Speiseplan. Er konnte als Spross einer Metzger-Dynastie überhaupt nicht verstehen, dass solch deliziöse Kost für kleine Kinder wie mich nicht unbedingt einen Leckerbissen darstellte. Ich kann mich noch lebhaft an tränenreiche und lautstarke Zwangsfütterungen im Urlaubshotel in Caorle erinnern und hege noch heute eine Abscheu gegen manche Fleischgerichte.
Überhaupt war das Essen, ganz wie schon im Schweizer Exil, ein zentrales Thema für Max. Bei Geschäftsreisen nach Italien, die ich als Dreikäsehoch manchmal begleiten durfte, logierten wir immer im Hotel „City“ in Vicenza. Und dort dinierte Max, oder besser – er hielt Hof wie ein Pascha, allabendlich stundenlang mit Geschäftsfreunden an einer Tafel, die sich buchstäblich bog. In Wien lud er ebenfalls gerne und oft Geschäftsfreunde zum Essen bei uns zuhause ein. Nach einem ausgiebigen Mahl mit einem oder zwei Gläsern Bier zog er sich jedoch regelmäßig zurück um völlig ungeniert in Anwesenheit der verblüfften Gäste ein Nickerchen zu halten. Die Verabschiedung blieb dann immer Gerlinde vorbehalten.
Mit Familie und Freunden ging er sehr gerne zum Heurigen, sein Lieblingslokal war der „Schafler“ in Traiskirchen.
Auch seine Wurzeln verleugnete er nicht, eine Lieblingsspeise von ihm blieb der gesulzte Karpfen, den er gerne in einem galizischen Lokal in Wien in der Nähe des
Herrenhuterhauses genoss ("...die
haben den besten gesulzten Karpfen von Wien...") und eines seiner Lieblingsgeschäfte war ein Lebensmittelkiosk in der Ausstellungsstraße.
Auch für eine Haushälterin, die gleichzeitig als mein Kindermädchen fungieren musste, war immer genug Geld vorhanden. Max war nämlich der Meinung, dass seine Frau im Büro wichtiger sei als im Haushalt.
Max als Hahn im Korb mit meiner Taufpatin Edith Stiassny und meiner Mutter Gerlinde
Auf seine Kleidung war er stets bedacht. Nicht umsonst hatte er seine ersten beruflichen Erfahrungen in einem bekannten Kleiderhaus gemacht und später eine Schneiderlehre in Zürich begonnen. Wann immer er in offizieller Mission aus dem Haus ging waren ein blütenweißes Hemd und ein eleganter Anzug obligatorisch.
Im Sommer machten wir jedes Jahr zwei Wochen Urlaub an der oberen Adria, zumeist in Caorle. Quartier im Voraus zu buchen, zumal in der Hauptsaison, erschien Max offenbar ehrenrührig und daher unterließ er dies fallweise. Auch eine rechtzeitige Abreise aus Wien durfte ich mit ihm nie erleben. Also kamen wir nach einer halsbrecherischen Fahrt (er fuhr gerne schnell und Tempolimits waren noch nicht so rigide wie heute) gegen Mitternacht in Caorle an und klapperten die Hotels ab. Und irgendwie schaffte es Max immer, noch irgendjemanden aus dem Bett zu klingeln, der uns wohl aus Mitleid doch noch ein Zimmer gab. Max frönte leidenschaftlich dem Boccia-Spiel, war allerdings immer nur zeitweise mit uns am Strand, da er zwischendurch immer auch Geschäfte in Vicenza und Milano zu erledigen hatte.

Max und Gerlinde Günsberg, Italien 1974
Der Winterurlaub verlief meist unter ähnlichen Vorzeichen. Viel zu spät in Wien aufgebrochen, kamen wir spät nachts in heftigem Schneetreiben am Fuße der Passstraße auf die Turracher Höhe in Kärnten an. Da natürlich keine Schneeketten mit dabei waren und um diese späte Zeit weit und breit niemand da war, der helfen hätte können, setzte er Gelinde kurzerhand oberhalb der Antriebsachse als Zusatzgewicht hin und wir durften wider Erwarten die Nacht doch noch im Hotel verbringen. Auch in diesen Urlauben hielt es ihn nie die ganze Zeit, zwischendurch mussten Geschäfte erledigt werden.
Autos stellten für seine berufliche Tätigkeit als Handelsreisender eine Lebensgrundlage dar. Sowohl um Ware an den Mann oder die Frau zu bringen als auch um Handelsware einzukaufen erfolgten zahlreiche Autoreisen, vornehmlich nach Italien. Er fuhr meist Modelle der oberen Mittelklasse, darunter Volvo, Simca und Fiat. Vor allem aber etliche Typen von Ford. Ford Taunus 17M, 20M und 26M bis hin zu zwei schnittigen Limousinen namens Granada (der erste weiß, der zweite dunkelblau) dienten der Reihe nach seiner Leidenschaft für schnelles Autofahren. Es gab damals noch kein Tempolimit auf Autobahnen und auch viel weniger Verkehr als heute, das nutzte er weidlich aus.
Sandro mit Simca Aronde, im Jahr 1955 in 1010 Wien, Maysedergasse 5
Gerlinde mit Volvo P130 Amazon Sport, im Jahr 1962
Ford 20m im Jahr 1970 in Mestre (Venedig), Italien
Ford 26M im Jahr 1972 in 1200 Wien, Brigittagasse 18
Ford Granada im Jahr 1973 in 2500 Baden bei Wien, Kaiser-Franz-Ring
Max waren Versicherungen nicht geheuer, er weigerte sich eine Kasko-Versicherung für seine Autos abzuschließen. Lediglich für seine Auslandsreisen schloss er jedes Mal separat eine eigene Reiseversicherung ab. Im Frühjahr 1973 vergaß er jedoch darauf. Bei dieser Reise sollte ihm im Kanaltal in Italien eine kleine Eisfläche zum Verhängnis werden, der Wagen (Ford 26M) geriet ins Schleudern und bei dem folgenden Crash wurde das Auto zum Totalschaden, der aufgrund der fehlenden Versicherung nicht ersetzt wurde. Max und Gerlinde sowie ein mitreisender Geschäftspartner wurden schwer verletzt.
Dies erklärt auch, warum laut obenstehender Aufstellung in nur drei Jahren drei Autos angeschafft wurden.
Technische Spielereien hatten es ihm angetan. So gab es in meines Papas Max Auto einen der extrem seltenen Auto-Plattenspieler, der bei gutem Wind meine Märchen-Platten abspielen konnte. Allzu oft funktionierte er jedoch nicht.
Mobiltelefone gab es noch lange nicht und auch Festnetzanschlüsse waren nicht überall zu haben, auch nicht in unserem
Kleingarten in Ober St. Veit (Wien). Also erstand Max in Italien leistungsstarke Funkgeräte, die in Österreich allerdings nicht zugelassen waren, um auch im Garten oder unterwegs erreichbar zu sein. Aber auch diese funktionierten meines Wissens nur ein oder zwei Mal.
Während praktisch alle Welt noch fotografierte, widmete sich der technikaffine Max bereits bewegten Bildern und hielt unsere Urlaube und Ausflüge auf analogem Super8-Filmmaterial fest. Über die Qualität seiner Aufnahmen lässt sich schwerlich streiten, vor allem die Technik des Schnellschwenks hatte er perfektioniert. Vollständige 180 Grad-Panoramaaufnahmen in 0,5 Sekunden machen die Identifikation der jeweiligen Urlaubsdestinationen im Nachhinein zur Herausforderung. Leider ließ er sich sein Spielzeug ungern aus der Hand nehmen, daher gibt es nur ganz wenige Szenen, auf denen er zu sehen ist
Die bei uns eingeladenen Gäste, egal ob Familie oder Fremde, mussten die Aufnahmen auf den dreiminütigen Filmspulen ohne Ton, dafür mit dem typischen Geratter des Filmprojektors über sich ergehen lassen, ob sie wollten oder nicht. Beim damaligen sehr überschaubaren Angebot an Heimkinounterhaltung waren jedoch die meisten trotzdem von der geradezu revolutionären Technik angetan. Jedenfalls wenn sie funktionierte, was nur selten der Fall war. Meist hatte Max nämlich irgendein essentielles Teil (die leere Filmspule, das Anschlusskabel des Projektors [übrigens exakt wie der abgebildete] oder ähnliches) unauffindbar verlegt. Und dann kam seine cholerische Seite zum Vorschein. Irgendjemand, nur nicht er, musste das Teil ja an falscher Stelle deponiert haben. Da blieben meist nur Gerlinde und ich übrig. Und einer von uns beiden bekam dann sein Fett in Form lautstarker Wutausbrüche ab, unabhängig von der Anwesenheit anderer Leute. Seine Emotionen hatte er leider nicht immer im Griff.
Max´ Verhältnis zu seiner Heimat war erstaunlich. Trotz der Erfahrungen, die seine Mitbürger ihm bereitet hatten, war er einer der überzeugtesten und leidenschaftlichsten Österreicher, die ich je gesehen habe. Sowohl im Geschäftsleben als auch privat hatte er unter anderem mit genau solchen Menschen zu tun, die für seine persönliche Tragödie zumindest mitverantwortlich zeichneten. Er trug gerne Steirer-Anzüge, war Anhänger des Fußballvereines Austria Wien, der in der Zwischenkriegszeit DER Verein und Sammelplatz assimilierter Wiener Juden war, und im Oval des Prater-Stadions skandierte er am lautesten von allen für Österreich. Wie ist seine diesbezügliche Motivation zu verstehen und zu bewerten?
Er starb zu einer Zeit, als sowohl Opfer als auch Täter der Kriegsgeneration meist noch einen Mantel des Schweigens über das Geschehene gebreitet hatten. In der Retrospektive und mit dem Abstand von einer oder zwei Generationen lässt sich relativ entspannt darüber sprechen und urteilen, aber damals waren die fürchterlichen Wunden des Erlebten noch viel zu frisch und wäre ein Zusammenleben gar nicht anders möglich gewesen. Offenbar hatte er zudem das „Österreich-Gen“ von seinem Vater geerbt. Und der eigensinnige Max hatte sich nun mal entschieden seine Heimat nicht so einfach aufzugeben. Daher blieb und lebte er hier und erzählte Sandro sehr wenig und mir gar nichts über seine Herkunft oder seinen früheren Lebens- und Leidensweg. Auch meine Mutter Gerlinde konnte mir nicht viel weitergeben, da Sie kaum etwas von ihm erfahren hatte. Meine kindlich-naive Nachfrage, warum er denn, im Gegensatz zu meiner mütterlichen Familie, in der das Gedenken an Gräbern üblich und normal war, nie das Grab seiner Eltern, also meiner väterlichen Großeltern, aufsuche, beantwortete mein Vater immer ausweichend. Dass seine im Holocaust ermordeten Schwestern und Mutter keine letzte Ruhestätte gefunden haben konnten wollte er mir nicht erzählen, ich hätte es als Kind auch kaum begriffen. Warum er aber das Grab seines Vaters am Wiener Zentralfriedhof, auf das ich erst im Zuge meiner Recherchen stieß, niemals besuchte und seiner Familie auch nie davon erzählte, habe ich bis heute nicht verstanden. Möglicherweise nahm er seinem Vater Setyk zeitlebens übel, dass dieser nach Max´ Meinung dafür verantwortlich war, dass Max´ geliebte kleine Schwestern Herta und Rita aus dem Erholungsurlaub in der Schweiz im Jahr 1938 wieder nach Wien zurückkehren mussten und dann in Maly Trostinec ermordet wurden. Dass sein Vater jedoch gar nichts dafür konnte und er die Mädchen liebend gerne in der Schweiz belassen hätte, wusste Max offenbar nicht.